Heinz Schott Magie der Natur Historische Variationen über ein Motiv der Heilkunst (Teil 1 und Teil 2) ISBN: 978-3-8440-2444-9 Prijs: 79,80 € / 99,75 SFR |
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Erst kam die Magie, dann die Religion, dann die Wissenschaft. Magie ist also ganz lang her. Dieser Eindruck entsteht, wenn Wissenschaftsgeschichte sich in der rationalen Rekonstruktion bahnbrechender Erkenntnisse erschöpft. Doch gerade im Bereich der Medizin dürfte Heinz Schott mit seiner Geschichte der Magie der Natur eher offene Türen einrennen, sind doch das Placebo und sein dunkles Gegenstück, das Nocebo, seit Jahren ebenso in der Diskussion wie die Bedeutung der inneren Einstellung des Patienten für den Heilerfolg und der Einfluss des Arztes auf ebendiese. Schott, Medizinhistoriker an der Universität Bonn, hat den Auftrag seines Opusmagnum- Stipendiums wörtlich genommen und zwei dicke, reichillustrierte Bände vorgelegt: über die Natur als Magierin, gelegentlich als Göttin, als handelnde, wirkende Kraft, und ihre Bedeutung in der Medizingeschichte. Magie, das klingt heute nach Schwärmerei oder Kindergeburtstag, hat doch die Statistik Glück und Unglück längst durch den Zufall ersetzt. Aber ist der moderne Mensch in seinem Kern wirklich ein rationales Wesen geworden, ist der Wissenschaftler frei von Aberglauben? Auch wenn der Begriff Magie verschwindet, das Phänomen bleibt erhalten, auch in der Theorie und Praxis der gegenwärtigen Medizin, so Schott. In seinem Buch blickt er, ausgehend von der Placebo-Nocebo-Debatte, zurück bis zur Naturphilosophie um 1800. Es geht um Naturheilbewegungen, Hypnose, elektrischen Magnetismus und Somnambule, um Liebeszauber, um Teufel und Hexen, die Verschmelzung von Gottesmutter Maria und Göttin Natura, die beide wundersame Heilkräfte bereithalten, um Paracelsus und Kabbala, Männerphantasien, das "innere Licht" und vieles mehr. Die Idee der Natur als letzter Autorität, deren Wohlwollen man sich sichern sollte, wenn alle menschlichen Bemühungen fruchtlos bleiben, hat, das wird deutlich, die Geschichte der Medizin von alters her begleitet. In der Fülle des Materials, das Schott zusammengetragen hat, findet der Leser manches Überraschende, Wunderliche und schon viel früher Dagewesene. Die Medizingeschichte wird zur Kulturgeschichte der Medizin, der medizinische Fortschritt wird eingebettet in die Kontexte seiner Zeit. Etwa die Entdeckung der Röntgenstrahlen und der Radioaktivität in den Kontext der Lebensreformbewegung und des Sonnenkultes, wie er um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert propagiert wurde. Das Radium galt damals als eine besondere Heilquelle der Natur, schien doch das Leuchten der mit Radium versetzten Materialien im Dunklen auf seine besondere Heilkraft hinzudeuten. Flugs tauften sich Heilbäder in "Radiumsolbäder" um. Die Röntgenstrahlen hingegen fungierten als eine Art modernes Memento mori, zeigten sie doch jedermann augenfällig das Totenskelett im Inneren des lebendigen Körpers. Auch heute beeinflussen Metaphysik und Moralvorstellungen unsere Sicht der Natur - vor allem die der menschlichen: Diese Botschaft kann der Leser mitnehmen. Zugleich aber lassen ihn die Vielfalt der von Schott behandelten Themen - von der Spiegelmetapher in der Kunstgeschichte über den Geniebegriff der Nationalsozialisten bis zur Bedeutung der Körpersäfte im Tantrismus - und die Ausführlichkeit ihrer Darstellung ein wenig ratlos zurück. Zu kurz, um zu überzeugen, sind hingegen manche Verknüpfungen althergebrachter Überzeugungen mit der modernen Medizin geraten, etwa psychotherapeutischer Verfahren mit dem Exorzismus. Auch warum ein gestandener Wissenschaftler Wikipedia als Quelle bemüht und die Fußnoten seiner beiden Bände durchgehend numeriert bis zur stolzen 4894 - "Fehlschlag bei Google- Suche" -, bleibt sein Geheimnis. Zweifellos gibt es mehr zwischen Himmel und Erde, als sich in einem Hirnscanner zeigt. Doch die Bände wären überzeugender ausgefallen, wenn der Autor dem Leser manches Interessante vorenthalten, ihm dafür aber klarer gesagt hätte, was er eigentlich sagen will. MANUELA LENZEN |
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Bron: Frankfurter Allgemeine, Feuilleton, Literatur und Sachbuch, Seite 10 | |
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