Eckart Balz, Peter Neumann (Hrsg.)
Schulsport: Anspruch und Wirklichkeit
Deutungen, Differenzstudien, Denkanstöße
Über Schulsport ist schon viel, aber noch längst nicht alles geforscht worden. Hält man nach einem gemeinsamen Nenner Ausschau, der diese Forschungen prinzipiell kennzeichnen kann, dann geht es dabei (fast) immer - zumindest implizit - um die Auseinandersetzung mit Ansprüchen, die an den Schulsport herangetragen werden, und um die Wirklichkeiten des Schulsports. An dieser Stelle kommt der differenzanalytische Forschungsansatz ins Spiel, der in der deutschsprachigen Sportpädagogik seit rund 20 Jahren (zunächst) eher lokale Verbreitung gefunden und der sich spätestens mit dem Vorliegen des hier vorzustellenden (vierten!) Sammelbandes in der Fachgesellschaft etabliert hat. Sportlehrkräfte an den Schulen sind dabei eingeschlossen: Ihre Resonanz ist entweder als Betroffene im Forschungsprozess selbst und/oder als Rezipierende der Forschungsergebnisse gefragt. Der differenzanalytische Ansatz ist eng mit dem Namen Prof. Dr. Eckart Balz (Wuppertal) verbunden, der zusammen mit seinem einstigen „Schüler" , Prof. Dr. Peter Neumann (Heidelberg), seinerzeit einige kleinere sportpädagogische Forschungsarbeiten auf den Weg gebracht hat, deren ausdrückliches Ziel es war, anhand ausgewählter Fragestellungen die Differenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Sportunterricht a) zu bestimmen, b) zu verstehen, c) zu bewerten und d) zu handhaben. Was die konkrete Handhabe anbelangt, hält diese nach der Auffassung der beiden Protagonisten Balz und Neumann mindestens drei Optionen bereit: Man kann demnach Differenzen im Sportunterricht zwischen Anspruch und Wirklichkeit 1. aushalten, 2. Verringern oder 3. vergrößern. Damit ist grobmaschig das Forschungsprogramm skizziert, das den Fokus der insgesamt 18 Beiträge dieses Sammelbandes bildet.
Breites Themenspektrum der Differenzstudien
Was bringt der Band „differenziert" nach Themen? Eine erste prägnante Antwort auf diese Frage gibt bereits das zweiseitige Vorwort von Prof. Dr. Dietrich Kurz, dem Bielefelder „Vater" der pädagogischen Perspektiven des Schulsports: Insgesamt neun Berichte über laufende und abgeschlossene Differenzstudien zum Schulsport bieten im Band einen differenzierten Einblick in das breite Themenspektrum, das derzeit in Differenzstudien erfasst wird. Das Buch ist gemäß seiner drei Untertitel unterteilt und empfiehlt sich allein wegen der Vielzahl der unterschiedlichen Beiträge auch zur selektiven Lektüre. Dabei erscheint es sogar lohnenswert, nach dem Vorwort ganz am Ende weiterzulesen: Dort befindet sich ein fünfseitiges Interview der beiden Herausgeber mit Prof. Dr. Jörg Thiele (Dortmund) in der Rolle als „skeptischer Sportpädagoge", der dem Forschungsansatz der Differenzstudien eine durchaus ertragreiche Zukunft voraussagt. Darüber hinaus rät Thiele dazu, das Forschungsprogramm selbst u. a. auch in methodologischer Hinsicht weiter auszuarbeiten. Versucht man die im Band präsentierten neun Differenzstudien schlagwortartig zu bündeln, dann ist dort z. B. von Anspruch und Wirklichkeit der Bewegten Schule bzw. dem Bewegten Ganztag (Beitrag von PD Dr. Tim Bindel, Wuppertal) die Rede, dann geht es um Anspruch und Wirklichkeit von Kompetenzorientierung im Grundschulsport (Dr. Anne-Christin Roth, Wuppertal). dann werden die pädagogischen Perspektiven zum Schulsport differenzanalytisch betrachtet (Julia Hapke und Prof. Dr. Ralf Sygusch, beide Nürnberg-Erlangen) und dann widmet sich Jürgen Killsteiner (Regensburg) der Individualisierung im Volleyballunterricht zwischen fachdidaktischen Ansprüchen und der unterrichtspraktischen Wirklichkeit. Wenigstens die folgenden drei Differenzstudien sollen stellvertretend für alle anderen etwas näher skizziert werden.
Sportlehrkräfte zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Um die „Sportlehrkräfte zwischen Anspruch und Wirklichkeit" (Titel) geht es Prof. Dr. Valerie Kastrup (Bielefeld) vor dem Hintergrund einer professionstheoretischen Sichtweise auf den Beruf als Sportlehrkraft: Sie bearbeiten die wichtige gesellschaftliche Aufgabe der Bildung im und durch Sport. Sie steuern damit gleichzeitig die Karriere der Schülerinnen und Schüler im Sport. Zwischen den beiden Personengruppen besteht eine Kompetenzasymmetrie im Sinne einer Experten-Laien-Differenz. In ihrer Differenzstudie, für die sie Interview-Material mit Sportlehrkräften aus ihrer Dissertation (vgl. Besprechung der Buchveröffentlichung in Heft 3/2009 dieser Zeitschrift) reanalysiert hat, geht es der Autorin jetzt insbesondere um die Frage, wie es um die Diskrepanzen zwischen diesen professionell begründeten Ansprüchen und deren Umsetzbarkeit in der schulischen Realität bestellt ist. Die Ergebnisse lassen sich in drei Komplexen zusammenfassen: Demnach gibt es Differenzen bezüglich der Vermittlungsaufgabe des Sportlehrerberufs, weil 1. z. B. die räumlichen und apparativen Rahmenbedingungen den hohen curricularen Vorgaben nicht gerecht werden, weil 2. bezüglich der Schülerkarriere Abstriche teilweise in der Selektionsfunktion gemacht werden, wenn es z. B. darum geht, gerechte Noten zu vergeben und das Notenspektrum auszuschöpfen. Und schließlich offenbaren sich Differenzen 3. hinsichtlich der Experten-Laien-Differenz, wenn Sportlehrkräfte aufgrund ihres mit zunehmendem Alter nachlassenden motorischen Könnens ihrer Vorbildfunktion nicht mehr gerecht werden können und dadurch Einbußen in der Akzeptanz durch Schülerinnen und Schüler befürchten müssen. Oft bleibt dann nur der Verzicht auf bestimmte Unterrichtsinhalte, wenn nicht sogar die Flucht aus dem Fach.
Wagnisvorhaben im Sportunterricht
Um eine empirische Prüfung der pädagogischen Perspektive „Etwas wagen und verantworten" geht es Anette Böttcher (Köln). Dabei versucht sie, eine Antwort darauf zu finden, wie speziell diese Perspektive von den per Leitfadeninterview befragten Sportlehrkräften in der Praxis des Sportunterrichts umgesetzt wird. Im ersten Schritt hat sie dazu jene Inhalte nominell herauspräpariert, wo Wagnisvorhaben im Sportunterricht vorkommen. Zwei Ergebnisse sind markant: Fast alle befragten Lehrkräfte siedeln die Wagnisperspektive neben anderen schwerpunktmäßig im Inhaltsbereich „Bewegen im Wasser - Schwimmen" an. Und insgesamt werden, mehr Inhalte mit Wagnissen assoziiert, als der Lehrplan vorgibt" (S. 126). In den Rahmenvorgaben werden explizit Argumente aufgeführt, die für den Einsatz von Wagnissituationen im Schulsport sprechen (z. B. eine herausfordernde Bewährungssituation mit eigenem Können bestehen). Hier zeigt sich im Ergebnis, dass die ausdifferenzierte curriculare Anspruchsebene von den Lehrkräften nur eher undifferenziert wahrgenommen wird und in der Wirklichkeit mindestens ein weiteres Pro-Argument hinzukommt, das der Lehrplan gar nicht „kennt": nämlich die Schülermotivation, also die Begeisterung für die Sache selbst, die offensichtlich hier höher ausgeprägt ist als bei anderen "klassischen Dingen", wie es ein Interviewpartner formuliert. Auf der Kontra-Seite, die ein Wagnisvorhaben einschränken kann oder gar für den Unterricht ausschließt, stehen Sicherheitsbedenken auf Lehrerseite klar im Vordergrund, gefolgt von fehlendem Material und der Schwierigkeit der Benotung von Wagnissen. Bei den Zielen der Wagniserziehung im Schulsport liegen dagegen Anspruch und Wirklichkeit nahezu deckungsgleich aufeinander: In den Lehrplänen und den Sportlehrkräften geht es wesentlich darum, den Schülerinnen und Schülern „eine realistische Selbst- und
Situationseinschätzung" zu ermögliehen.
Einstiege in den Sportunterricht
Den Stundeneinstieg in den Sportunterricht thematisiert der Beitrag von Jun.-Prof. Dr. Rolf Schwarz (Karlsruhe). Er konstatiert hierzu einen sogenannten "normativen Überschuss". Das soll heißen: Was ein guter Einstieg in den Sportunterricht ist, glauben wir allein aufgrund der Kenntnis allgemein und fachdidaktischer Literatur ausreichend zu wissen. Allerdings scheint es bezüglich belastbarer empirisch-analytischer Befunde für unser Fach dagegen eher schlecht bestellt zu sein. Dieses empirische Defizit versucht die Studie schrittweise zu beseitigen, indem sie sich drei Fragen widmet: 1. die nach dem zeitlichen Anteil des Einstiegs in Relation zur Dauer der gesamten Stunde; 2. die nach dem Phasenverlauf von Einstieg und Hauptteil einer Stunde und 3. die nach der Umsetzung eines pädagogischen Anspruchs, insbesondere der Verwirklichung der drei bekannten Grundfähigkeiten von Bildung nach Klafki: Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität. Was den zeitlichen Umfang angeht, kommt Schwarz zu dem durchaus überraschenden Ergebnis, dass dieser, im Mittel bei rund 41 % (!) der Doppelstunden und im Fall der Einzelstunden bei rund 34 % liegt". Was dagegen die inhaltliche Gestaltung anbelangt, wird ein sogenanntes "Phasenhüpfen" innerhalb der Eröffnung attestiert, wodurch die Güte des Hauptteils angezweifelt werden kann.
Und sonst?
Der Sammelband bietet schon vorn einen differenzierteren Einblick in die Genese dieses Forschungsansatzes (speziell im Beitrag von Balz) sowie in seine Charakteristik (speziell im Beitrag von Neumann). Wer sich selbst daran machen möchte, eine Differenzstudie zu konzipieren, erhält im hinteren Teil wertvolle Hinweise zur Durchführung (wiederum in einem Beitrag von Neumann). Und wer bis dahin immer noch nicht differenziert genug im Band fündig geworden ist, dem sei der allerletzte Aufsatz zur Lektüre empfohlen: Vom „Umgang mit Bankdrückern´ im Sportunterricht" handelt die Differenzstudie von Vanessa Kraft (Wuppertal). Auch dabei gilt: Dem Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit kann nur begegnet werden, wenn die potenziellen Differenzen bestimmt, verstanden, bewertet und konstruktiv gehandhabt werden. Die Autorin zeigt uns differenziert, wie das in Wirklichkeit mit „Bankdrückern" geht und wie sich dabei die „Wirklichkeit" von Bankdrückern verändern kann.
PROF. DR. DETLEF KUHLMANN
Quelle: Praxis in Bewegung, Sport & Spiel, Ausgabe 3/2015, S. 42 f.