Bernhard Meyer
Perspektivenwechsel und demokratisches Lernen
Bernhard Meyer
Bewegung für die Langsamen
Zur Rückgewinnung des öffentlichen Raumes
Es ist unübersehbar: Früher war manches ganz anders. Der Behauptung soll hier nun nach¬egangen werden, dass der öffentliche Raum sich für Kinder, Alte und Beeinträchtigte langsam verändert hat und unbemerkt Qualitäten verschwunden sind, deren Bedeutung sich erst heute erschließt. Was einmal selbstverständlich war, verschwand zunächst, ohne dass es vermisst wurde. Doch irgendwann zeigt die Analyse auf, welche wichtige Funktion das verlustig Gegangene hatte.
Verschwunden sind zum Beispiel die vielen kleinen Mäuerchen an den Grundstücksgrenzen, welche dazu einluden, auf ihnen zu balancieren oder aber sich auch kurz auszuruhen. Langsam aber sicher wurden sie durch höhere Zäune ersetzt. Damit ist eine Gelegenheit verschwunden, welche die Wege für Kinder interessant macht und die für Alte ein Erholungspunkt war. So wie der Privatheit deutlich der Vorzug gegenüber dem Öffentlichen gegeben wurde, gerieten alle Übergänge unter das planerische Radiergummi. Zwar lernten Studierende der Architektur oder Stadtplanung, dass es nicht nur den privaten und den öffentlichen Raum, sondern auch den Halb-öffentlichen gibt. Diese Übergangsflächen, die einerseits dem privaten Grund zuzurechnen sind, andererseits aber auch von Menschen genutzt werden, die dort nicht wohnen, puffern die unterschiedlichen Ansprüche ab. Heute stoßen sich die Interessen vielfach unmittelbar an der Grenze.
Verschwunden sind zum Beispiel die Treppen zu den Hauseingängen, die im öffentlichen Raum erreichbar waren. Kinder sind hochgelaufen, haben von oben einen anderen Überblick gehabt, um dann beim Herunterspringen möglichst wenige Stufen zu berühren. Ein anderer Aspekt einer verschwundenen Qualität betrifft die Definitionsoffenheit. Immer mehr verregelte Flächen und geregelte Nutzungen fixieren darauf, dass diese Regeln auch eingehalten werden. Ebenso gibt es typologische Muster, die dazu führen, dass bei älteren Menschen das Sitzen im öffentlichen Raum immer mit einer Bank verbunden wird. Es ist jedoch der Kern jeder Aneignung, dass man selbst definiert, was etwas ist und wozu es gut ist. Die Verinnerlichung dieser Regelungsmechanismen, die Verfestigung von Typen führen bei Erwachsen oft dazu, dass sie sehr irritiert sind, wenn etwas nicht eindeutig ist. Ambivalenz wird nicht als Chance gesehen, sondern als Betriebsunfall im öffentlichen Raum.
Ebenso verschwanden beispielsweise die quadratischen Gehwegplatten, die in hellen und dunklen Tönungen zu sprunghaftem Vorwärtsbewegungen führten. Auch die Muster von Hüpfspielen beruhten auf dieser Form der Gehwegplatte. Mit dem Verbundsteinpflaster zog ein Straßenspielkiller in den öffentlichen Raum ein.
Freiheitsentzug ohne Urteil
Auf diese Weise sind langsam aber sicher Aufenthaltsflächen verloren gegangen, so dass Menschen, die stehen bleiben, und Personen, die sich aufhalten, ein Hindernis darstellen. Der öffentliche Raum ist Transportstrecke für die Berufstätigen, ob nun mit dem Auto oder zu Fuß. Wer sich ausschließlich zielorientiert verhält, verliert dabei die Aufenthaltserfahrung. Erfahrung vermittelt sich über die Sinne. In der Umgebung einmalige Erfahrungsmöglichkeiten hatten der Straße ein unverwechselbares Profil gegeben, waren identitätsstiftend. Doch das wird später als Kindheitserfahrung abgespeichert. Und im Alter, wenn man wieder langsamer wird, stellt man verwundert fest, was alles nicht mehr möglich ist.
Verloren gegangen ist im Laufe des Erwerbslebens die Aufenthaltsperspektive, die den Blick und die Aufmerksamkeit anders bündelt. Wer sich nur bewegt, kennt nicht mehr den Blickwinkel derjenigen, die sich aufhalten. Dabei ist das Bewusstsein für eine Aufenthaltsqualität verloren gegangen, die die Chance lässt, Teil einer auf die eigenen Person bezogenen Straßenwirklichkeit zu werden. Dies dokumentieren oft die Bebauungspläne. Für Fahrzeuge sind zwei Vorgänge vorgesehen: 1. Die Bewegung von A nach B, das nennt man Fahren. Dafür die eigene Fahrbahn. 2. der Aufenthalt genannt Parken. Dafür die eigenen Parkplätze. Für Menschen ist nur ein Vorgang vorgesehen, nämlich die Bewegung von A nach B, also das Gehen. Dafür der 1,50 m breite Fußweg. Die Straße als Aufenthaltsort bleibt unberücksichtigt. Die gleichförmige Rastrierung und Orientierung in Fahrtrichtung betont den Charakter der Straße als Transportbahn. Das Moment der Identifikation, der sukzessiven Orientierung entfällt, da die Straße als Ganzes sofort erfasst ist. Es bleibt nur übrig, sie als Strecke zu durchqueren.
Die Reduktion auf die Bewegungsfunktionen für Autofahrer, Radfahrer, Fußgänger vernachlässigt die Bedürfnisse von Kindern, alten und beeinträchtigten Menschen. So wird ihnen unreflektiert die Grundlage entzogen für Aneignungs-, Entscheidungs- und Kommunikationsprozesse, die lebensentwickelnd und -erhaltend sind. Wo der Straßenraum diese Qualität nicht mehr ausweist, werden die einen immer weniger rausgelassen, die anderen trauen sich immer weniger vor die Tür. Eine Straße in lebensbedrohender Bewegung ist wie Freiheitsentzug - ohne Urteil. Ein latent lebensfeindlicher Straßenraum kennt keine Übergänge vom Privaten zum Öffentlichen und kennt keine Inseln der Ruhe und freien Gestaltung. Fehlende Folgenabschätzungen von Planungen und die Dominanz normativer Lösungen lassen die Erwerbstätigen als Planer und Entscheider oft nicht merken, dass durch ihr Handeln Lebensweltqualität verloren geht. Wer sich zum Beispiel nicht regelmäßig mit Anderen im öffentlichen Raum trifft, um sich mit denen zu unterhalten und mit ihnen dort zu verweilen, für den existiert nur abstrakt die Anforderung Kommunikation. Als Lösung werden Sitzbänke um Bäume herum angebracht (im Schatten und außerdem wird auch der Baum geschützt). Dass dabei die Sitzenden nach außen sehen und durch die Kreisanordnung allenfalls noch zwei benachbarte Personen sich mit Verrenkungen sehen können, existiert als Erfahrungswert nicht.
Der allmähliche Verlust von Qualitäten und die funktionelle Reduktion zeigen Folgen, die heute unübersehbar sind. Es betrifft die Langsamen im Straßengeschehen: Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen und alte Menschen. Doch dies wird von der Mehrzahl der Erwachsenen nicht bemerkt, weil sie den öffentlichen Raum aus anderer Perspektive und mit anderer Interessenlage erleben. Es fehlt ein altersentsprechender Maßstab.
Rückzug ins Private
Eine Recherche der Literatur zum Wohnen im Alter vermittelt, dass die Wohnung zunehmend zum Lebensmittelpunkt wird. Gleichzeitig verringert sich der räumliche Aktionsradius. Durchgehend wird konstatiert, dass ältere Menschen stärker auf ihre Wohnung und deren unmittelbare Umgebung fixiert seien. Diese Reduktion des Radius verbinden alle Autoren mit dem zunehmenden Alter, wobei besonders die Krankheitsanfälligkeit und Morbidität hervorgehoben werden. Es wird zwischen einem Draußen-Typ, der bei den 65-79jährigen gesehen wird, und einen Drinnen-Typ, der für 80-94jährige konstatiert wird, unterschieden.
In vielen Untersuchungen werden die Aktivitäten beschrieben, die außerhalb der Wohnung unternommen werden. Der Inhalt der Aktivität liefert jedoch keinen Erkenntnisgewinn. Ob nun 40 Prozent angeben, »Besorgungen zu machen«, bedeutsam ist es, dass sie sich persönlich auf den Weg machen. Wenn aber die Wohnung verlassen wird, findet eine bilanzierende Verträglichkeitsprüfung statt. Reichen die persönlichen Ressourcen aus, um den Anforderungen der Wegstrecke und des aufzusuchenden Raumes gerecht zu werden? Insofern ist weniger nach den Aktivitäten als nach den behindernden Bedingungen zu fragen. Die persönlichen körperlichen Beeinträchtigungen sind schnell als Grund identifiziert, dass sich der Aktionsradius verringert. Doch werden hier nicht die sozialräumlichen Gegebenheiten als unveränderlich akzeptiert? Der Anteil des Behinderungspotentials im Außenraum wird nicht in den Blick genommen. Auch in aktuellen Veröffentlichungen dominieren individuelle Merkmale.
Die alltägliche Risikoabschätzung ist bisher kaum untersuchungsrelevant. In der Regel wird alles erst ab einer gewissen Dramatik relevant. Als häufigste Vorkommnisse sind hier Verletzungen in Folge von Stürzen, Bränden und Verkehrsunfällen zu nennen. Es dominiert die Angst vor schweren Straftaten wie Überfall und Raub. So wichtig diese Aspekte sind: Sie stellen nur einen Ausschnitt der entscheidungsrelevanten Aspekte dar. Es ist vor allem das Bild eines Menschen hinterlegt, der unsicher ist; der sich im Straßenverkehr als Fußgänger nicht bewegen kann; dessen sensorische Möglichkeiten eingeschränkt sind. Das Sicherheitsbedürfnis alter Menschen wird aber reduziert betrachtet. Es fehlt der Aspekt der körperlichen Kraftreserven. Die Auseinandersetzung mit der Umgebung muss durch die Konfrontation mit körpereigenen Signalen ergänzt werden. Und die signalisieren für das Unterwegs sein, dass es langsamer wird; dass es mehr Kraft kostet; und dass die Komplexität der Anforderungen anstrengt.
Perspektivenwechsel
Bei einem disziplinübergreifenden Blick wird deutlich, dass der Kern eines Perspektivenwechsels die Veränderung ist. Der Akteur verändert seine Position im physischen Raum oder er nimmt eine andere gedankliche Position ein. Aber die Veränderung kann auch den Gegenstand des Interesses betreffen, den man physikalisch in eine andere Position bringt oder den man verändert rezipiert. Zu der bekannten Sicht kommt eine weitere hinzu. Sie erschließt sich durch eigene Veränderung oder durch die Hinzunahme der Sicht des/der Anderen. Diejenigen, die Entscheidungen über den öffentlichen Raum treffen, die ihn sukzessive verändern, sind berufstätige Männer und Frauen. Sie können die Erfahrungen von Kindern nur in einer trügerischen Form berücksichtigen. Ihre Kindheitserinnerungen sind nicht mehr planungsrelevant. Ihre Möglichkeiten, die kindliche Sichtweise einzunehmen, sind durch die Lebensgeschichte verstellt. In ihrem Erfahrungsfundus ist auch nicht die spezielle Sicht auf den öffentlichen Raum vorhanden, wie ihn die Befindlichkeit von beeinträchtigten oder älteren Menschen mit sich bringt. Es wird erkennbar, dass Menschen, die man selbst nicht repräsentiert, ihr aktuelles Erfahrungswissen zur Verfügung stellen müssen. Sie sind als Erfahrungsexperten ernst zu nehmen. In ihren Erfahrungsmitteilungen steckt immer die Botschaft, etwas zu erhalten, weil es so gut ist; etwas zu verändern, weil es gegenwärtig stört, hindert oder unangenehm ist; etwas zu ergänzen, weil dann das Vorhandene besser wird. Entsprechend sollte nicht nach Wünschen, sondern nach Erfahrungen gefragt werden. Deutlich wird, dass zur Verbesserung der Situation nicht nur der (fach) politische Wille erforderlich ist, sondern auch die Umgangsweise eine wichtige Rolle spielt. Planung und Politik vollziehen sich im Überblick und werden in der Regel von Nicht-Betroffenen ausgeführt. Singuläre Erfahrungen sowie eigene Übertragung werden als Hilfskonstruktion benutzt. Erforderlich ist also ein Perspektivenwechsel.
Perspektivenwechsel heißt von Betroffenen lernen. Sich den Stadtteil aus ihrer Sicht zeigen lassen. Begreifen, was ihnen wichtig ist. Dieser Perspektivenwechsel steht also einer Diagnose entgegen, die durch die Segmentierung, die Trennung der Teile, charakterisiert wurde. Es wird der Vielfalt von Dingen und Bedeutungen das Wort geredet.
Lernprozesse
Wenn also Lernprozesse in Gang gesetzt werden sollen, bedarf es zunächst der Bereitschaft, der Motivation zum kommunalen Lernen. Und damit die Kommunikation gelingt, muss die eine Seite ihr Perspektivwissen zur Verfügung stellen, auf das die andere Seite mit ihrem Fachwissen reagiert. Dies gelingt nicht durch eine einmalige Einsicht. Vielmehr müssen alte Gewohnheiten durch neue ersetzt werden. Wenn also im folgenden von der Stadt Griesheim die Rede ist, dann kommt darin zum Ausdruck, dass hier die Bereitschaft zur flächendeckenden Veränderung vorhanden war. Ein Bürgermeister und seine Nachfolgerin haben konsequent einen Weg der Stadtveränderung eingeschlagen, der nicht auf vereinzelte Lösungen abzielt, sondern die ganze Gemeinde im Blick hatte.
Die Stadt Griesheim hat knapp 30.000 Einwohner und befindet sich im Rhein-Main-Gebiet unmittelbar westlich von Darmstadt. Die Gemarkung weist eine Fläche von 2.155 ha auf. Der demografische Wandel findet deutlich abgeschwächt statt, da durch Neubaugebiete und entsprechende Angebote für Familien ständig Zuwachsraten bei der Einwohnerzahl zu verzeichnen sind. Zunächst wurden durch Beobachtung, Befragung und Kartierung die relevanten Orte und Wege von jungen und alten Menschen erkundet. Die besonders frequentierten Wege sind unter dem Gesichtspunkt der freien Restflächen analysiert worden und das Ergebnis mit Bauhof, Ordnungsamt und Liegenschaftsamt abgeglichen worden. So ergaben sich bei den Kindern 100 Orte für Spielobjekte, bei den Älteren konnten 145 Möglichkeiten für verschiedene Formen des Aufenthaltes im öffentlichen Raum entdeckt werden.
Die bespielbare Stadt
Eine Rutsche ist eine Rutsche. Darauf wird gerutscht. Das Begehen der Rutschfläche in umgekehrte Richtung stellt eine Zweckentfremdung dar. Das Sitzen und Palavern auf einer Tischtennisplatte wird als nicht sachgerechte Benutzung angesehen. Erst werden Spielobjekte von Erwachsenen definiert, dann von Kindern umdefiniert. Ein Findling dagegen hat keine Vorbestimmung durch Erwachsene erfahren. Er liegt einfach da und kann angesehen werden. Aber er lässt sich umrunden. Man kann sich draufstellen oder –legen. Herunterspringen macht Spaß. Und es lässt sich herausfinden, wieviel Kinder darauf passen. Wenn am Wege blaue Kugeln auf Stangen stehen, wollen Erwachsene wissen, wofür sie da sind? Kinder können darüber hüpfen. Ältere Menschen ruhen sich darauf aus. Das Mädchen stellt sich drauf, um den Jungen besser küssen zu können. Mit dem Fahrrad kann man die Pfosten umrunden.
Diese Definitionsoffenheit in einer verregelten Umwelt schafft neue Anreize. Jede und jeder kann entsprechend den eigenen Anforderungen sich Gegenstände aneignen, sie zum Teil der eigenen Lebenswelt erklären. Naturmaterialien wie Findlinge und Baumstämme sind definitionsneutral. Aber auch Anbieter von Spielplatzgeräten haben den öffentlichen Raum entdeckt. Unterschiedliche Qualitäten werden angeboten für die Grob- und Feinmotorik. Man kann Wippen, Schwingen, Wirbeln, Drehen und Balancieren. Aber auch Kommunizieren und Experimentieren. Und selbst dort, wo der öffentliche Raum keine Nischen anbietet, oder der Weg zu schmal ist, kann durch die Veränderung des Bodenpflasters eine andere Qualität erreicht werden. Eine Unterbrechung des Verbundsteinpflasters durch gestaltete Flächen oder der Austausch einzelner Steine durch farbige Steine zu einem Wegeband können hier Gestaltungsmittel sein.
Die besitzbare Stadt
Im Zusammenhang mit den Wegerfahrungen stellt sich bei älteren oder beeinträchtigten Menschen die Ressourcenreflexion als die wichtigste Komponente dar. „Man muss sich seine Energien einteilen und wenn ich weiß, dass ich mich nirgends hinsetzen kann, kostet mich das zu viel Energie.“ Die sich verkürzenden Ausgehwege werden mit steigender Müdigkeit in Beziehung gesetzt. Erfahrungen, beim Laufen unsicher zu werden und zu stolpern, werden dabei der eigenen Person und weniger den Verhältnissen zugeschrieben.
Schon vor Beginn eines Spaziergangs findet ein Abgleich statt, dessen Ergebnis steuert, welcher Weg genommen wird. »Die Strecken sind oft zu lang, um sie ohne Pausen zu laufen.« So haben sie feste »Pausen-Punkte« wie kleine Mäuerchen. »Ich brauche nicht unbedingt eine Bank, um etwas zu verschnaufen.« Weitere Aspekte, die beim Aufsuchen des öffentlichen Raumes eine Rolle spielen, sind
das Image: »Oft würde sie sich gerne erneut hinsetzen, aber auf die Stufen beim Geschäft kann man sich ja schlecht setzen. Wie sähe das denn aus?«
das Soziale: »Sie beobachte auch öfters zwei Frauen vor ihrem Haus, die sich öfters zu einem Schwätzchen an der Straßenecke treffen, da wäre eine Sitzgelegenheit auch günstig.«
die Fürsorge: »Wenn sie Kleinigkeiten in der Stadt zu erledigen und ihren Mann dabei hat, fällt ihr auf, dass es kaum eine Möglichkeit gibt, dass ihr Mann sich mal hinsetzen könnte.«
der ökonomische Aspekt: »Auch wenn man jemanden trifft in der Stadt, könnte man sich hinsetzen. Cafés hat es wohl, aber da muss man ja immer auch etwas trinken.«
Als im öffentlichen Raum Griesheims Spielobjekte auftauchten, deren Zweck und Nutzung definitionsoffen waren, löste dies bei der Bevölkerung große Irritationen aus. Im Gegensatz zu Kindern, die sich Objekte aneigneten, den Dingen einen temporären Sinn und einen Namen gaben, fragten Erwachsene nach Erklärungen. Mit der Einordnung in das Konzept »bespielbare Stadt« war zumindest geklärt, dass dies für Kinder sei. Doch dann wurde beobachtet, dass bestimmte Objekte auch von Erwachsenen, zumeist älteren Menschen, als temporäre Sitzgelegenheit adoptiert wurden.
Aus dieser Nutzungserfahrung heraus entwickelte sich als Anforderung an ein Objekt, das geeignet ist, kurzzeitig Kraft zu schöpfen:
Die Sitzfläche soll so hoch sein, dass ein Aufstehen durch Gewichtsverlagerung möglich ist.
Die Sitzfläche soll entsprechend abgeschrägt sein.
Für eine Positionierung im Gehweg soll der Flächenverbrauch gering sein.
Nach Regen soll das Wasser schnell ablaufen und der Trocknungsprozess günstig verlaufen.
Wartungsfreiheit soll weitgehend gewährleistet sein.
Eine Sichtung aller Kataloge für Straßenmöblierungen zeigte, dass es solche Objekte nicht gibt. Aufgrund von Zufällen und persönlicher Ansprache haben sich zwei Firmen motivieren lassen, die Entwicklung von temporären Sitzobjekten anzugehen; ähnlich im Ergebnis bei unterschiedlichem Erscheinungsbild.
Die meistgenannte Sitz-Variante im öffentlichen Raum heisst Bank. Bänke werden angeboten als Parkbank, Kunststoffbank, Holzbank usw. Trotzdem ist der Anspruch nach den Erkenntnissen dieser Untersuchung unterschiedlich, was sich aus der abweichenden Funktion ergibt:
Das kommunale Kino: Dieser Banktypus muss so ausgestaltet sein, dass ein längerer Aufenthalt als angenehm empfunden wird. Insofern ist sowohl die Form von Sitzfläche und Rückenunterstützung relevant, wie auch das Vorhandensein einer Armlehne.
Der Treffpunkt: Hier geht es nicht um das Wohlfühlen, sondern die Möglichkeit zu sitzen während einer zeitlich nicht genau bestimmbaren Übergangszeit. Auf jeden Fall muss die Bankanlage als Sammelpunkt die Möglichkeit bieten, dass sich eine ganze Reihe von Menschen setzen können, ob nun als Segment oder Rundbank.
Das Innovative der besitzbaren Stadt liegt in der Berücksichtigung der sich situativ ergebenden Anforderungen. Ergänzt wird dies mit dem vorhandenen Mobiliar aus Sitzbänken und Objekten der bespielbaren Stadt.
Eine Stadt für die Langsamen
So wie Autobesitzer ihr Interesse an einem Parkplatz genau kennen, so brauchen auch Menschen, die zu Fuß unterwegs sind, Halteplätze. Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nicht nur durch Bewegung, sondern auch durch Stillstand gekennzeichnet. Das Verweilen ist bei Kindern anders motiviert als bei älteren oder beeinträchtigten Menschen. Doch beide haben einen gleichberechtigten Anspruch, der durch die bespielbare und besitzbare Stadt wieder aktualisiert wird. Die Rückgewinnung einer verloren gegangenen Qualität ist keine Sozialromantik und kein historisierender Ansatz. Vielmehr wird bei Kindern der öffentliche Raum wieder aufgewertet und bietet Bewegungsanreize, die auch gesundheitspolitisch gewünscht werden. Bei beeinträchtigten und älteren Menschen kann einem frühzeitigen Rückzug in die Immobilität deutlich entgegengewirkt werden. Die Beweglichkeit der Langsamen ermöglicht die Lektüre der ganzen Gesellschaft jenseits des Privaten. Die reduzierte Öffentlichkeit bekommt ein altes und gleichzeitig neues Gesicht.
Literatur
>>Galtung, Johan (1982): Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg
>>Meyer, Bernhard (2010/11): Mensch Stadt. Bd. 1: Perspektivenwechsel und demokratisches Lernen; Bd. 2: Die bespielbare Stadt. Die Rückeroberung des öffentlichen Raumes; Bd. 3: Die besitzbare Stadt - Öffentlicher Raum und individuelle Sicherheit. Aachen
Quelle: RaumPlanung 161 / 2-2012 Seite 29