Regine Pfrepper Lebendige Stoffe Deutsch-russischer Wissensaustausch in der Physiologischen Chemie im 19. Jahrhundert Volume 7 ISBN: 978-3-8440-0625-4 Prijs: 44,30 € / 88,60 SFR |
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Die Monographie >em>Lebendige Stoffe von Regine Pfrepper schließt eine wichtige Lücke in der Geschichte der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen. Physiologie und Chemie nehmen als sich formierende Leitwissenschaften in der naturwissenschaftlich begründeten Medizin des 19. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle ein. Das Buch schildert anhand der Entwicklung der Physiologischen Chemie im Russischen Reich im 19. Jahrhundert, der Institutionalisierung des Fachs, der Geschichte der beiden russischen Akademien (der Kaiserlichen und der Militärmedizinischen Akademie in St. Petersburg), der acht Universitäten des Zarenreiches (Moskau, Dorpat, Kazan´, Char´kov, Kiev, Odessa, Warschau und Tomsk) sowie der außeruniversitären Bildungs- und Forschungseinrichtungen diesen komplexen Prozess der Aneignung und des zunehmenden Austausches. Die Rolle der russischen biochemischen Zeitschriften und Fachgesellschaften wird dabei ebenso untersucht und beschrieben wie die der Übersetzungen deutschsprachiger Arbeiten auf dem Gebiet ins Russische oder russischsprachiger Arbeiten ins Deutsche. Besonderes Augenmerk legt die Autorin, die (selbst promovierte Chemikerin und lange Zeit in Russland tätig) das Russische ausgezeichnet beherrscht, auf die Studienaufenthalte russischer Physiologen und Biochemiker im deutschsprachigen Raum, die Übersetzungstätigkeit sowie die auf Deutsch publizierten Schriften russischer Wissenschaftler. Hier spiegelt sich (gleichsam nebenbei) sowohl die zentrale Rolle Deutschlands in den Naturwissenschaften als auch des Deutschen als einer für das 19. Jahrhundert unerlässlichen Wissenschaftssprache. Deutsche Universitäten, etwa Heidelberg, Tübingen, Berlin, Gießen oder Leipzig, die einzige deutschsprachige Universität des Zarenreiches in Dorpat Qur´ev, heute Tartu), aber auch Wien, wo bei Ernst von Brücke gearbeitet wird, oder Basel sind zentrale Orte dieses Wissensaustausches. Die verdienstvollen, umfassenden Biobibliographien aller deutschsprachigen Schriften der russischen physiologischen Chemiker (insbesondere der Lehrstuhlinhaber und Professoren im Zarenreich) mit Bezug zu Deutschland erlaubt die Rekonstruktion dieses Austausches im Einzelnen. Der große Einfluss, den zentrale Gestalten wie Justus von Liebig in Gießen, Carl Ludwig in Wien und später in Leipzig, Felix Hoppe-Seyler in Tübingen und Straßburg, Gustav von Bunge in Basel oder der Nobelpreisträger Albrecht Kossel in Berlin, Marburg und Heidelberg auf ihre zahlreichen, später selbst bedeutende Wissenschaftler gewordenen russischen Studenten ausübten, wird anschaulich belegt. Ein kurzer Blick auf die Biobibliographien zeigt, dass die aus dem Zarenreich stammenden Studenten und Wissenschaftler keine bloße Weiterbildung, sondern Primärforschung betrieben, und dass sich ihre Publikationstätigkeit weit über bloß naturwissenschaftliche Fragen (wie Protein- oder Immunchemie, Verdauungsphysiologie oder Blutgerinnung) hinaus mitunter auch gesellschaftlich bewegenden Problemen wie Alkoholismus, Vegetarismus, Geschlechtskrankheiten und Sexualreform zuwandte. Insbesondere Bunge beschäftigte sich mit solchen Fragen sehr engagiert und publikumswirksam. Die Arbeit dokumentiert somit auch den hohen Stellenwert, der naturwissenschaftlich- medizinischen Methoden für die Beantwortung gesellschaftlicher Probleme eingeräumt wurde, und setzt auch kulturhistorisch interessante Akzente. Die Autorin, seit vielen Jahren und sehr erfolgreich in der Wissenschaftsgeschichte zu den deutsch-russischen Beziehungen tätig, greift auch auf bislang unpubliziertes oder unbeachtetes Material aus deutschen und russischen Archiven zurück, etwa auf das Archiv der Leopoldina, den Bunge-Nachlass, das Zentrale Historische Archiv in Moskau und das Russische Historische Archiv St. Petersburg. Dieser mitunter mit Schwierigkeiten gepflasterten, verdienstvollen Archivarbeit verdanken wir u.a. einen interessanten, bislang ungedruckten Brief Liebigs an den russischen Minister für Volksaufklärung Sergej S. Uvarov aus dem Jahr 1845 oder die Arbeitsberichte von Feofan V. Tichonovic aus Heidelberg, wo dieser bei Emil Erlenmeyer praktisch gearbeitet hatte. Übersichten der Übersetzungen deutscher biochemischer Lehrbücher zwischen 1795 und 1934 belegen eindrucksvoll den Wissensstrom von Deutschland nach Russland. Russische Publikationen, die in deutschen Zeitschriften referiert werden, oder Übersetzungen aus dem Russischen ins Deutsche zeigen umgekehrt einen Wissenstransfer, der erst den gegenseitigen Austausch ausmacht. Der nun vorliegende Band schließt an die Monographie Lebensvorgänge. Deutsch-russische Wechselbeziehungen in der Physiologie des 19. Jahrhunderts, Aachen: Shaker 2009 der Autorin, den dritten Band der Reihe Relationes, an, einer Reihe der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, die sich ausschließlich den so oft vernachlässigten deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen widmet. Ein weiterer Band derselben Autorin, der sich dem benachbarten Gebiet der Pharmakologie widmet, ist 2012 unter dem Titel Wirksubstanzen. Deutsch-russische Beziehungen in der Pharmakologie des 19. Jahrhunderts, (Relationes; 8) Aachen: Shaker erschienen. Sinnvoll ergänzt wird diese Trilogie durch das ebenfalls 2012 erschienene, verdienstvolle Biobibliographische Lexikon der Physiologen zwischen Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert von Marta Fischer, den neunten und bislang letzten Band dieser Reihe. Systematische Gründlichkeit, die Einbeziehung der verfügbaren Quellen und die profunde Übersicht über die Geschichte der beteiligten Protagonisten und Institutionen machen diese drei bzw. vier Bände zu Werken, auf die an deutscher oder russischer Wissenschafts- und Medizingeschichte Interessierte noch sehr lange zurückgreifen werden. Thomas Schmuck (Berlin) |
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Bron: Berichte zu Wissenschafts-Geschichte. Organ der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte. S. 191-192 | |
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