Johannes Wagemann Gehirn und menschliches Bewusstsein Neuromythos und Strukturphänomenologie ISBN: 978-3-8322-9772-5 Prijs: 37,00 € / 74,00 SFR |
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Die Hirnforschung und Neurobiologie hat sich in den letzten 20 Jahren zu einem so hochspezialisierten Fachgebiet mit komplexen Theorien und einer riesigen Fülle von Messergebnissen entwickelt, dass ein genauer Überblick und eine Urteilsbildung darüber dem Nichtfachmann kaum noch möglich ist. Die oft als »harte Fakten« und mit großer Überzeugungskraft vorgetragenen Ergebnisse werden jedoch immer mehr zum »Allgemeinwissen«. Sie beanspruchen die Deutungshoheit für die seelischen und geistigen Bereiche des Menschen und vermitteln uns das Bild, dass unser Ichbewusstsein lediglich auf neuronalen Prozessen beruht, die sich im Laufe der biologischen Evolution entwickelt haben. Lern- und Aufmerksamkeitsstörungen werden mit hirnorganischen Ursachen erklärt, die Möglichkeit eines freien Handelns des Menschen häufig bestritten und eine auf sich selbst gegründete Individualität als Fiktion angesehen. Tatsächlich findet ein erbitterter Kampf um das Bild des Menschen statt. Während das menschliche Ich vom Hirnforscher und Verhaltensphysiologen Gerhard Roth als »Fiktion, ein Traum des Gehirns« bezeichnet wird, betrachtet Thomas Fuchs, als Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie, das Gehirn als Beziehungsorgan und erklärt: »Die Welt ist nicht im Kopf. Das Subjekt ist nicht im Gehirn. Im Gehirn gibt es keine Gedanken.« Hinter dieser Problematik verbirgt sich die Grundfrage nach der wechselseitigen Beziehung von Gehirn und Bewusstsein. An dieser Stelle setzt die Dissertationsschrift (Universität Witten/Herdecke) von Johannes Wagemann an. Er entwirft im Teil I seines Buches eine »Charakterskizze des Gehirns« und stellt diese jener des Bewusstseins gegenüber. In vier Kapiteln analysiert er dazu zunächst einzeln und unvermischt neurobiologische Befunde und Theorien, philosophische, psychologische und phänomenologische Ansätze und reflektiert das methodische Vorgehen der Neurobiologie. Das Ergebnis lässt sich mit dem in seinem Untertitel verwendeten Begriff Neuromythos zusammenfassen. In seiner Analyse der methodischen Vorgehensweise heutiger Hirnfunktionstheorien weist Wagemann unzulässige Wechsel der Erklärungsebenen und Deutungsmuster nach, ungenauen Sprachgebrauch und Analogiebildungen. Er widerlegt den Begriff der »neuronalen Selbstorganisation« und die weit verbreitete Ansicht, das Gehirn integriere Sende- und Empfangsqualitäten und bilde Bewusstsein. Vielmehr zeige sich durchgehend die Tendenz zur Strukturauflösung und Diversifizierung. Er sieht im Gehirn »keine in irgendeiner Weise auf Bewusstseinsbildung hinweisenden Faktoren« und formuliert: »Warum sollte ein menschliches Organ wie das Gehirn, welches rein physiologisch angesehen keinen Sonderstatus gegenüber den anderen Organen beanspruchen kann und welches sich in Entwicklung, Physiologie und Architektur nicht prinzipiell von seinem animalischen Vorläufer unterscheidet, in Bezug auf seine Vergleichsobjekte aber einen Qualitätssprung von der (unbewussten) Selbstausschließung zur (bewussten) Selbstbezüglichkeit vollzogen haben«? Weil das Gehirn »durch seine organisch determinierte Funktion keinen Bewusstsein ermöglichenden Selbstbezug hervorbringen kann«, sollte, so folgert Wagemann konsequent, die mentale Selbstbezüglichkeit »dort gesucht werden, wo sie tatsächlich erscheint: Im menschlichen Bewusstsein selbst«. Damit lenkt Wagemann den Blick in Richtung der »Selbstbeobachtung phänomenalen Bewusstseins«. Als mögliche Ansatzpunkte dafür werden Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit ebenso diskutiert wie Ken Wilbers Integrale Psychologie, als Versuch, verschiedene Richtungen der Psychologie und Spiritualität zu einem System zusammenzufassen. Nach der kritischen Untersuchung weiterer gängiger Bewusstseinsphilosophien und Definitionen des Bewusstseins testiert er ihnen unzulässige Erweiterungen ihrer Geltungsansprüche und erkenntnistheoretische Lücken. Hinsichtlich der akademischen Psychologie wird gezeigt, wie diese einen schweren Stand gegenüber der Hirnforschung hat, weil ihr gegenwärtig eine eigenständige und einheitliche methodische Fundierung fehlt. Neuere Forschungen, wie etwa die zu Bewusstseinszuständen bei Nahtoderfahrungen, sind im Buch noch nicht enthalten und würden das Bild noch erweitern. Als Frucht dieser ernüchternd wirkenden Analyse sind in jedem Falle die Anforderungen klar geworden, die an eine »Reformulierung des Gehirn-Bewusstseins-Problems« gestellt werden müssen. Im Teil II wird in drei Kapiteln als möglicher Lösungsansatz die Strukturphänomenologie Herbert Witzenmanns dargestellt. Ausgehend von der Grundproblematik des Verhältnisses von Natur- und Geisteswissenschaft versucht Wagemann Wege zu zeigen, wie der Gegensatz zwischen Monismus und Dualismus durch ein prozessuales Verständnis der Bewusstseinsentstehung aufgehoben werden kann. Als Beispiel für einen Ansatz zur Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung, wenn auch im Bereich der Naturwissenschaft, wird Goethes Aufsatz »Der Versuch als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt« angeführt. Die Thematik der Beobachtung des Denkens bei Steiner liefert den »Aufweis von Zuständen des Bewusstseins, die nicht die Form der Objekt-Subjekt-Spaltung haben, dennoch aber einer geschulten Selbstbeobachtung zugänglich sind«. Die Konsequenz des von Wagemann vorgeschlagenen Lösungsansatzes wird in der Formulierung deutlich: »Mit der Beobachtung des Denkens stellt sich dem heutigen Bewusstseinsforscher also eine Bewusstseinsaufgabe: Selbsterkenntnis im Sinne des eigenen (mit-)erzeugenden Erkennens«. Zwei Grundbedingungen zur Lösung der Gehirn- Bewusstseins-Problematik könnten damit erfüllt werden: Erstens die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung als Charakteristikum des naturwissenschaftlichen Methodenideals und zweitens die reflexive Anwendbarkeit jeder Aussage zur Problematik auf das sich im Bewusstsein ereignende Forschen selbst. Diese Bedingungen sieht Wagemann in der von Witzenmann entwickelten Strukturphänomenologie ansatzweise erfüllt, weshalb sie eine Brücke zur neurowissenschaftlichen Diskussion schlagen könnte. Die von Steiner beschriebene Vereinigung von Wahrnehmung und Begriff bezeichnete Witzenmann als »Urversuch« und griff diesen Grundzug goetheanistischer Erkenntniswissenschaft so auf, dass er an die heutige Form der Bewusstseinsforschung anschlussfähig sein kann. Durch die Methode der prozessualen Beobachtung bietet sich auch ein Lösungsansatz für die von einigen Neurobiologen aufgeworfene Frage dar, wie das Gehirn nach der zuerst vollzogenen Dekomposition (Entstaltung) visueller Gebilde wieder ein einheitliches Gesamtbild als Rekomposition erzeugen kann. Auch wenn Wagemann zeigen möchte, dass es Wege zum Verständnis der Gehirn-Bewusstsein- Problematik gibt und berechtigt hofft, dass diese im Dialog zwischen Hirnforscher und Bewusstseinsforschern beschritten würden, bleibt der Dreh- und Angelpunkt doch die notwendige Beobachtung des Bewusstsein aus einer Erste- Person-Perspektive. Ansonsten bliebe, so meine ich, vieles doch letztlich auf der Ebene von Hypothesen und »Erklärungsmodellen«. Ein solcher Verständnis fördernder Dialog wäre durchaus möglich und die empirisch-phänomenologischen Befunde könnten als Bestätigung für das zu entwickelnde transkategoriale Konzept angesehen werden. Die fundamentale Bedeutung dieser Wissenschaftserweiterung unterstreichend formuliert Wagemann: »Der Eintritt in diese Forschungsart wäre eine Neukultivierung wissenschaftlichen Denkens und Beobachtens von paradigmatischer Reichweite«. Das Buch verlangt dem Leser mit seiner Fülle an Fachbegriffen, Einzelthemen und methodischen Reflexionen einiges an Gedankenarbeit ab und ist keine leichte Kost. Das entspricht einerseits durchaus der Thematik, aber auch dem Autor, der damit seinen wissenschaftlichen Anspruch ebenso deutlich macht, wie seine Kenntnisse aus seinen Studien der Elektrotechnik, Physik, Mathematik und Philosophie. Erholsam und hilfreich wirken einzelne Praxisbeispiele wie die zur reinen Wahrnehmung oder zur intentionalen Handhabung von Sinneswerkzeugen. Es wäre dem Buch angesichts des Stellenwertes der darin behandelten Thematik sicherlich zu wünschen, irgendwann in leichter verständlicher Form ein breiteres Publikum zu erreichen. Anderseits lohnt die mühsame Durcharbeitung unbedingt, denn der Neuromythos »ist eines der selbstgemachten Gefängnisse, in die sich das Denken unserer Zeit begeben hat. Aber da es selbstgemacht ist, kann sich der Mensch auch aus eigener Kraft daraus befreien.« Diese Freiheit muss sich jeder Menschen selbst erarbeiten; sie kann nicht gegeben werden. Die Studie von Johannes Wagemann kann aber in Verbindung mit der darin behandelten Strukturphänomenologie ein Wegweiser und Helfer auf dem Weg zu dieser zentralen Entwicklungsoption des Menschen sein. Andreas Meyer |
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Bron: Die Drei 4/2015, Seite 90 | |
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Johannes Wagemann Gehirn und menschliches Bewusstsein Neuromythos und Strukturphänomenologie ISBN: 978-3-8322-9772-5 Prijs: 37,00 € / 74,00 SFR |
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Die Hirnforschung und Neurobiologie hat sich in den letzten 20 Jahren zu einem so hochspezialisierten Fachgebiet mit komplexen Theorien und einer riesigen Fülle von Messergehnissen entwickelt, dass ein genauer Überblick und eine Urteilsbildung darüber dem Nichtfachmann kaum noch möglich ist. Die oft als »harte Fakten« und mit großer Überzeugungskraft vorgetragenen Ergebnisse werden jedoch immer mehr zum »Allgemeinwissen«. Sie beanspruchen die Deutungshoheit für die seelischen und geistigen Bereiche des Menschen und vermitteln uns das Bild, dass unser Ichbewusstsein lediglich auf neuronalen Prozessen beruht, die sich im Laufe der biologischen Evolution entwickelt haben. Lern- und Aufmerksamkeitsstörungen werden mit hirnorganischen Ursachen erklärt, die Möglichkeit eines freien Handelns des Menschen häufig bestritten und eine auf sich selbst gegründete Individualität als Fiktion angesehen. Tatsächlich findet ein erbitterter Kampf um das Bild des Menschen statt. Andreas Meyer |
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Bron: die Drei 4/2015 / S. 90-92. | |
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Johannes Wagemann Gehirn und menschliches Bewusstsein Neuromythos und Strukturphänomenologie ISBN: 978-3-8322-9772-5 Prijs: 37,00 € / 74,00 SFR |
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Die vorliegende Veröffentlichung von Johannes Wagemann unternimmt den Versuch der Neujustierung einer traditionsreichen Forschungsfrage: „Wie lassen sich die im menschlichen Gehirn vorhandenen Strukturen und neuronalen Aktivitätsformen auf das menschliche Bewusstsein beziehen und umgekehrt?“ In den letzten 15 bis 20 Jahren sind so viele Einzelaspekte dieser Frage in ein neues Licht getaucht worden, dass man fast von einem Quantensprung der neurobiologischen Forschung sprechen könnte. Dabei hat sich eine Literatursparte entwickelt, die neben der originären, hoch spezialisierten Fachliteratur mit Ratgeberqualitäten aufwartet: Das Gehirn und die Psyche oder neurodidaktische Konzepte für effektives Lernen werden ebenso besprochen wie „Gehirnjogging“ für ein geistig rüstiges Alter. Die Neurobiologie avanciert dabei zu einer Grundlagenwissenschaft, die den Vorteil zu haben scheint, „harte Fakten“ liefern zu können, die unleugbar Wesentliches über unsere anthropologische Ausstattung und die daraus resultierenden Möglichkeiten (oder Folgen) zur Sprache bringen. Das Selbstbewusstsein, mit dem solche, den Menschen erklärenden Erkenntnisse vorgetragen werden, ist wahrscheinlich auch den experimentellen Erfolgen der Neurobiologie geschuldet. Dass daraus jedoch keine falschen Schlüsse gezogen werden sollten, hat jüngst Thomas Fuchs erklärt: Unbestreitbar hat die Neurobiologie eine Fülle revolutionieren der Erkenntnisse über die biologischen Grundlagen des Geistes, des Erlebens und Verhaltens, aber auch psychischer Krankheiten erlangt, aus denen sich fruchtbare Anwendungsmöglichkeiten ableiten lassen. Andererseits hat sie auch eine „zerebrozentrische“ Sicht des Menschen begünstigt, die sich vor allem in der Medizin, Psychologie und Pädagogik ausbreitet. So bringt das neurobiologische Paradigma in der Psychiatrie die Tendenz mit sich, Krankheiten primär als materielle Vorgänge im Gehirn anzusehen und damit von den Wechselbeziehungen der Person mit ihrer Umwelt zu isolieren. Ähnlich werden in der Pädagogik schulische Lern- und Aufmerksamkeitsstörungen zunehmend auf hirnorganische Ursachen zurückgeführt.1 Mindestens ebenso problematisch muten aus der Neurobiologie abgeleitete Thesen über das reflexive Selbstverständnis des Menschen an – eine Domäne, die traditionell der Geisteswissenschaft zuzurechnen ist. Geist, Ich-Identität und das Phänomen des menschlichen Willens rücken aus der denkenden Binnenperspektive des Menschen heraus und geraten als Konstrukte in biologische Erklärungssysteme, deren Evidenz in Untersuchungsreihen an Hirnarealen gewonnen wird. Der Neurobiologe Gerhard Roth hat eine solche These abgeleitet: Unser Ich, das wir als das Unmittelbarste und Konkreteste, nämlich als uns selbst, empfinden, ist – wenn man es etwas poetisch ausdrücken will – eine Fiktion, ein Traum des Gehirns, von dem wir, die Fiktion, der Traum, nichts wissen können.2 Wenn die Neurobiologie die Deutungshoheit für die seelischen und geistigen Seiten des Menschen beansprucht, muss ihr eigenes methodisches Vorgehen auf den Prüfstand gehoben werden. Oder anders formuliert: es muss systematisch untersucht werden, wie die neuronalen Aktivitäten des Gehirns zu den Bewusstseinsleistungen des Menschen im Verhältnis stehen, wobei diese Frage eine Methodenreflexion voraussetzt, die den Schritt vom biologischen Phänomen bis zur aussagekräftigen Interpretation berücksichtigt. Wagemann hat in seiner Dissertation (Universität Witten/Herdecke) dieses methodenwissenschaftliche Desiderat bearbeitet und kommt dabei zu überraschenden Einsichten. Diese lassen den Autor bezüglich vieler, möglicherweise vorschnell zu „Fakten“ und „Erkenntnissen“ stilisierter Thesen nüchtern von einem Neuromythos (siehe Untertitel) sprechen.3 Die Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel, die wiederum zu zwei Buchteilen gehören. Die Kapitel 1 bis 4 ordnen sich der Entfaltung der Problemgestalt (Teil I) unter, während die Kapitel 5 bis 7 die systematische Erkundung eines Lösungsansatzes (Teil II) enthalten. Einen zentralen Topos der Problemgestalt, die sich bei dem Thema seiner Arbeit ergibt, sieht Wagemann im Verhältnis von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft begründet. Es ist dabei vor allem die methodische Differenz samt ihren gebietsspezifischen Implikationen, die zu einer weitreichenden „anthropologischen Dichotomie“ (S. 7ff.) geführt haben und dementsprechend unser wissenschaftlich geprägtes Weltbild bestimmen: Die Methode der Naturwissenschaft ist das quantitative Vermessen und Modellieren der materiellen Gegenstände und Vorgänge, die Methode der Geisteswissenschaft das im weitesten Sinne hermeneutische Erschließen und ethische sowie ästhetische Bewerten von Begriffszusammenhängen, Sprachsystemen, Entwicklungsprozessen und Bewusstseinsqualitäten,(Wagemann, S. 8) Der Hiatus, der sich hier auftut, wird aber erst dann folgenreich, wenn Methodologien unter Außerachtlassung ihrer bereichsspezifischen Berechtigung angewendet werden. Wenn die Naturwissenschaft kulturelle und geistige Phänomene einzig mit den instrumentellen Möglichkeiten der Quantifizierung erfassen will (und nicht gemäß ihrer Sinnstrukturiertheit) und wenn die Philosophie die Funktion des Gehirns durch bloßes Nachdenken und Textarbeit klären wollte, wären die Erkenntnisresultate äußerst fragwürdig.4 (Wagemann, ebd.) Die Spannung dieser dichotomischen Methodenrelation erfordert deshalb nach Wagemann einen vertiefenden Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, wobei hier auch neue paradigmatische Orientierungen vonnöten seien. (S. 12) Für die Explikation des Hauptthemas unternimmt Wagemann nun zwei ausgreifende Analysen. Er stellt den gegenwärtigen Forschungsstand der Neurowissenschaft dar („Blick auf das Gehirn“) und der Autor beschreibt die Bewusstseinstheorien unter systematischen Aspekten („Blick auf das Bewusstsein“). Da viele der momentan diskutierten Hirnfunktionstheorien über ihre phänomenale Beschreibungsebene eine Deutungsebene legen, die Auskunft geben soll über das psychische Korrelat der neuronalen Aktivitätsmuster, prüft Wagemann jeweils die methodische Vorgehensweise bei einem vorliegenden Ebenenwechsel. Dabei zeige sich ein weit verbreiteter unpräziser Sprachgebrauch, sowie unreflektierte Analogiebildungen. Aus diesen Untersuchungen möchte ich drei Aussageformen herausgreifen. Sie scheinen maßgeblich zu sein für heutige, neurowissenschaftlich orientierte Auffassungen. Wagemann untersucht zunächst die informationstechnische Sicht auf das Gehirn. Sie interpretiert die meisten neuronalen Vorgänge im Sinne einer Signalverarbeitung. Verbleibt man strikt bei dem neuronalen Prozess elektrochemisch weiter gegebener Impulse, so könne von einer „Verarbeitung“, die im (stets mit gedachten) Sinne eines semantischen, also bedeutungshaften Prozesses erfolge, nicht die Rede sein. Die informationstheoretische Interpretation des Gehirns sei nur für die Träger- und Signalebene zulässig, weil die Untersuchungsergebnisse nichts anderes hergeben. (S. 71) Jede diesen Tatbestand überschreitende Aussage führt der Autor auf einen unberechtigt erweiterten Begriffsgebrauch zurück (aus „Signal“ wird unbelegbar „Information“). Auch die verbreitete These, das Gehirn sei ein System, welches Empfangs- und Sendequalitäten integriere, ist nach Wagemann einer unberechtigten Anthropomorphisierung und Mentaliserung eines Körperorgans geschuldet. (ebd.) Keine der von Sinnessignalen ableitbaren neuronalen Transformationen bilde in irgendeiner Weise Bewusstsein: Im Gegenteil: Qualitativer und kontextualer, das heißt mental relevanter Zusammenhang von Ausgangsstrukturen wird in den Stufen einer diskretisierenden und entqualifizierenden Rezeption, einer begrifflose Unterschiedlichkeit betonenden Filterung und einer zunehmend divergierenden Weiterleitung ohne Zielpunkt aufgelöst. (S. 71) Eine dritte, fast schon enthusiastisch aufgenommene These ist mit dem Begriff „neuronale Selbstorganisation“ umrissen. Sie fügt sich ein in das umfassendere Theoriegebäude der systemtheoretischen Biologie mit ihren verzweigten, bis in die Erkenntnistheorie reichenden Entwürfen (z.B. in Gestalt des Radikalen Konstruktivismus). Wagemanns Textanalysen zur neuronalen Selbstorganisation erweisen auch hier recht schnell argumentative, begriffliche Ungenauigkeiten und Aporien. Er kann schlüssig stets nachweisen, dass der Interpretationsrahmen ohne stichhaltige Belege auf der phänomenalen Ebene erweitert wird. So gibt es z.B. durchaus Effekte der Selbstorganisation, sofern man das synchrone Feuern von Neuronenensembles als „organisiert“ betrachten will. Es lasse sich jedoch nirgends feststellen, dass derartige Parallelerscheinungen in Bewusstseinsbildungen münden. Es gibt bisher keine Korrelation zwischen Ereignissen auf dem Niveau der neuronalen Selbstorganisation und mental gerichteten Aktivitäten. (ebd.) Der Autor unterstreicht seine Auffassung von der unzulässigen Hypostasierung, die wichtigen neurobiologischen Phänomenen zugemutet wird, mit einer Fülle von Detailuntersuchungen. Sie führen letztlich alle zu der Frage, wie der Eigenbereich des Bewusstseins konstituiert ist und ob sich möglicherweise gerade aus der Differenz zwischen der neurobiologischen (Zusammenhang ausschließenden) Beschreibungsebene und der Deskription der mentalen Leistungen die Kriterien ableiten lassen, welche zu einer wirklichkeitsgesättigten Skizze der Gehirn-Bewusstsein-Relation führen. Wagemanns „Blick auf das Bewusstsein“ kann natürlich nur schon ein Theorie geleiteter Blick sein, was ihn mit der Aufgabe konfrontiert, die Voraussetzungen analysieren zu müssen, die jeweils zu bestimmten Bewusstseinstheorien führen. Nach einer solchen, typologisch erfassten Theorielandschaft sucht er dann den Weg zurück in das Gebiet mentaler Phänomene. Insgesamt weist Wagemann auch den Bewusstseinstheorien neben ihren auf das jeweilige Kerngebiet bezogenen gültigen Aussagen (monistische und dualistische Entwürfe beinhaltend) unzulässige Erweiterungen ihrer Geltungsansprüche nach. Damit befinden sich Neurobiologie und bewusstseinstheoretische (Subjekt konstituierende) Ansätze in einem vergleichbaren methodologischen Dilemma. Aus beiden wissenschaftlichen Terrains nimmt der Autor nach seinem Erkundungsgang die argumentativen Unzulänglichkeiten und Aporien mit. Vor diesem Hintergrund formuliert er zwei Fragen, die sowohl die methodische Schwierigkeit wie auch das einzulösende Anforderungsprofil offen legen, welches bei der Explikation der Gehirn-Bewusstsein-Relation zutage tritt: I. Die Frage im Blick auf unser Bewusstsein Ist menschliches Subjekt-Bewusstsein so objektivierbar, dass (1.) der Vorgang der Objektivierung als naturwissenschaftlich gerechtfertigt bezeichnet werden darf und gleichermaßen (2.) dieses Subjekt-Bewusstsein als Untersuchungsgegenstand nicht seiner wesentlichen Charakterzüge entkleidet wird? Oder in anderen Worten: Kann der Bewusstseinswissenschaftler als Wissenschaftler den Zustand der Subjekt-Objekt-Spaltung nach naturwissenschaftlichem Methodenideal überwinden? (S. 141, kursiv original) II: Die Frage im Blick auf das Gehirn Gibt es eine Interpretation der neuronalen Prozesse, die sowohl dem heteronomen Standpunkt der Hirnforschung als auch dem autonomen Standpunkt eines bewussten Menschen genügt? (…) (ebd., kursiv original)5 Der Autor sieht diese Fragen als Richtlinien seines Lösungsansatzes, was so viel bedeutet, als dass jede Aussage zum Gehirn-Bewusstsein-Problem sich hierauf beziehen lassen muss. Bei der Erkundung des Lösungsansatzes greift der Autor nun einerseits auf die bisher dargestellten Untersuchungsergebnisse zurück (Aporien der Neurobiologie und Typologie der Bewusstseinstheorien) und andererseits führt er einen strukturphänomenologischen Entwurf (Herbert Witzenmann) ein, der nach eingehender Prüfung sowohl dem naturwissenschaftlichen Methodenideal (Frage 1) wie auch dem Blick auf die entqualifizierende Funktionalität des Gehirns Rechnung tragen könnte (Frage 2). Wenn das Gehirn in den funktionalen, neurochemischen Vorgängen primär Vereinzelung bzw. Strukturauflösung bewirkt und das Bewusstsein gerade vermittels seiner Zusammenhangqualitäten (Erkenntnisse sind stets Bezüge und Zusammenhänge) beschreibbar ist, dann kann – so Wagemann –: (…) die Relevanz neuronaler Vorgänge für das menschliche Bewusstsein in der Vermittlung von Zusammenhanglosigkeit (1. Lösungsaspekt) und der Ermöglichung einer Entstehung einzelheitlich-individualisierter Strukturen (2. Lösungsaspekt) (bestehen, AFM). Die anderen Funktionsmerkmale des Bewusstseins, mentalen Zusammenhang zu bilden und Vereinzeltes einzubinden, können dem nüchtern konstatierten Forschungsstand entsprechend und allen Spekulationen, Hypothesen, Hypostasierungen und Mentalisierungen zum Trotz keine Leistung des Gehirns sein. (S. 150, kursiv original) Da die Strukturphänomenologie Witzenmanns in methodologischer Hinsicht an die Geisteswissenschaft Steiners anknüpft, ist Wagemanns Lösungsvorschlag insgesamt in diesem Rahmen zu sehen. Die generelle Aussage, welche aus diesem geisteswissenschaftlichen Kontext zu ziehen ist, betrifft eine Funktionssicht auf die Biologie, die das Individuum auf den Eigenbereich seiner auf sich beruhenden mentalen Prozesse (denkende Zusammenhangbildung) zurückführt, wobei dies in gewisser Weise gegen die dekomponierende (Witzenmann) Wirkung der leiblichen Organisation erfolgt. Die bisherige Schwäche dieser Konzeption lag darin, dass sie sich mit der neurowissenschaftlichen Diskussion unserer Zeit entweder nicht auseinandersetzen konnte (Steiner) oder dies nicht detailliert genug unternahm (Witzenmann). Hier schließt Wagemann eine klaffende Forschungslücke. Vor dem Hintergrund seiner Untersuchungsergebnisse gewinnt die Bewusstseinsphänomenologie ein erheblich präziseres Profil. Der Dialog zwischen Neurowissenschaft und Bewusstseinsforschung könnte damit wesentliche Impulse erhalten. 1. Thomas Fuchs (22009). Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart: Kohlhammer, S. 16f. 2. Gerhard Roth (1994). Erkenntnis und Realität. Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit. In: S.J. Schmidt (Hg). Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus. Frankfurt: Suhrkamp, S. 253 3. Vgl. dazu auch Günter Schulte (2001). Neuromythen. Das Gehirn als Mind Machine und Versteck des Geistes. Frankfurt: Verlag Zweitausendeins. 4. Die Neurobiologie verfolgt partiell dieses Ziel. So heißt es im Manifest: Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung: „Auf lange Sicht werden wir entsprechend eine ´Theorie des Gehirns´ aufstellen, und die Sprache dieser Theorie wird vermutlich eine andere sein als jene, die wir heute in der Neurowissenschaft kennen. Sie wird auf dem Verständnis der Arbeitsweise von großen Neuronenverbänden beruhen, den Vorgängen auf der mittleren Ebene. Dann lassen sich auch die schweren Fragen der Erkenntnistheorie angehen: nach dem Bewusstsein, der Ich-Erfahrung und dem Verhältnis von erkennendem und zu erkennenden Objekt. Denn in diesem zukünftigen Moment schickt sich unser Gehirn ernsthaft an, sich selbst zu erkennen.“ (Zitiert nach: http://www.gehirn-und-geist.de/manifest) 5. Es sei betont, dass Wagemann in seinem Fazit („Charakterskizze Gehirn“, S. 134-137) den Grundzug aller neuronalen Prozesse nicht in einem Bewusstsein konstituierenden Sinn sieht; vielmehr sei diesen Prozessen durchgängig eine Tendenz zur Strukturauflösung und Diversifizierung eigen. Deshalb müssten mentale Bildevorgänge anderweitig lokalisiert werden. |
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Bron: RoSE – Research on Steiner Education, Volume 2, Number 2, pp. 132-134, December 2011 | |
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