Jochen Kütter Graffiti auf römischer Gefäßkeramik aus Neuss ISBN: 978-3-8322-7237-1 Prijs: 34,90 € / 69,80 SFR |
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Seit wenigen Jahren beschäftigt sich die internationale Forschergemeinde wieder vermehrt mit Fragen zur Schriftlichkeit in den römischen Provinzen. Dies dürfte nicht zuletzt dem Umstand geschuldet sein, dass man seit den spektakulären Schreibtäfelchen von Vindolanda und der Aufarbeitung der Kleininschriften aus dem Schutthügel von Vindonissa die Gewissheit hat, dass die Schriftkultur der westlichen Provinzen ähnlich komplex war wie die durch die Papyri schon lange belegte Literalität im Osten des Reiches. Neben Schreibmaterial und Schreibgerät (M.Feugère / P.-Y. Lambert [Hrsg.], L’écriture dans la société galloromaine. Eléments e réflexion collective. Gallia 61, 2004, 1–192) stehen in den gallisch-germanischen Provinzen auf Grund der hiesigen Erhaltungsbedingungen vor allem die zahlreichen Graffiti auf Gefäßkeramik im Fokus des Interesses. Die anzuzeigende Arbeit von Jochen Kütter über die Graffiti aus Neuss steht in der Tradition einer ganzen Reihe analoger Grafittopublikationen in einer vergleichsweise gut erschlossenen Forschungslandschaft. Im Gegensatz zu anderen römischen Provinzen, deren Graffitomaterial erst in allerjüngster Zeit punktuell vorgelegt wurde oder gerade bearbeitet wird – zum Beispiel die südliche Germania superior mit Augst und Avenches –, sind die Graffiti der Germania inferior bereits vor einiger Zeit in einer größeren Fläche erfasst worden, zumindest soweit sie 1975 im Landesmuseum Bonn greifbar waren (B. Galsterer-Kröll, Graffiti auf römischer Keramik im Rheinischen Landesmuseum Bonn. Epigr. Studien 10 [Köln und Bonn 1975]). Dazu kommen separate Veröffentlichungen der Graffitibestände einzelner Orte wie Asberg (T. Bechert, Steindenkmäler und Gefäßinschriften. Funde aus Asciburgium 4 [Duisburg 1976]) oder des im nördlichen Teil der Großprovinz Germania gelegenen Militärstützpunktes Haltern (B. Galsterer, Die Graffiti auf der römischen Gefäßkeramik aus Haltern. Bodenaltertümer Westfalens 20 [Münster 1983]). Gleichzeitig mit dem anzuzeigenden Titel entstanden ist eine Arbeit über Graffiti aus Xanten (St. Weiß-König, Graffiti auf römischer Gefäßkeramik aus dem Bereich der Colonia Ulpia Traiana/Xanten [in Vorb.]). Mit der Arbeit von Kütter liegen nun die Graffiti auf Gefäßkeramik aus Novaesium (Neuss) vor, deren Bearbeitung Brigitte Galsterer-Kröll bereits 1975 angeregt hatte, auf Grund anderer Verpflichtungen aber nicht weiterverfolgen konnte. Es handelt sich um eine 2007 am Institut für Kunstgeschichte und Archäologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn abgeschlossene Dissertation, die schon ein Jahr später in einem der heute günstigen Dissertationsdrucke erscheinen konnte. Der Autor hatte sich bereits in seiner Magisterarbeit mit den Graffiti aus dem Clemens-Sels- Museum in Neuss beschäftigt und gemeinsam mit Carl Pause einen populärwissenschaftlichen Ausstellungskatalog vorgelegt (Geritzt und gestempelt. Schriftzeugnisse aus dem römischen Neuss [Neuss 2006]). Die Arbeit wird schon auf Grund des Fundplatzes auf großes Interesse stoßen, ist doch Neuss für die provinzialrömische Archäologie in Deutschland ein besonderer Ort. Novaesium wurde um 16 v. Chr. gegründet und gehört damit zu den frühesten Militärstandorten am Rhein. Es blieb das gesamte erste Jahrhundert über durch Legionen beziehungsweise Legionsvexillationen besetzt. Auch wenn wir heute wissen, dass die unter Agrippa ausgebaute Südnordstraße quer durch Gallien bis zum Niederrhein nicht in Neuss endete, sondern weiter den Rhein entlang bis nach Nimwegen führte, ändert dies nichts an der Rolle von Neuss als einem bedeutenden Aufmarschplatz für das römische Heer gerade in der offensiven augusteisch-frühtiberischen Phase. Offenbar war der Stützpunkt immer nur für kurze Zeit belegt, und so folgten östlich des Meertals zwischen Rhein und Erftmündung bis Anfang der vierziger Jahre des ersten Jahrhunderts mindestens zehn Holz-Erde-Lager mit diversen Bauphasen aufeinander. Als Besatzungen lassen sich Vexillationen in wechselnder Stärke und Zusammensetzung annehmen. Schlaglichtartig wird die Besatzung während der Meutereien nach dem Tod des Augustus deutlich: Laut Tacitus (Ann. 1, 31) lagen damals die Hauptteile der Legionen I, V Alaudae, XX Valeria Victrix und XXI Rapax im Gebiet der Ubier am Rhein, und zwar in einem namenlosen Sommerlager, das üblicherweise mit Novaesium gleichgesetzt wird. In der Frühzeit war Neuss also Sammelplatz, Durchgangslager und Nachschubbasis in einem, besaß eine hohe Truppenfluktuation und war vom Charakter her sehr ähnlich den immer wieder aufgesuchten Lagerplätzen Dorsten-Holsterhausen oder Trebur-Geinsheim, wenn auch ziemlich sicher mehr oder weniger durchgehend belegt. In den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren änderte sich der Charakter des Stützpunktes zu einem fest verorteten Truppenstandort (castra hiberna) an der Flussgrenze. Östlich des bisherigen Lagerareals wurde ein neues Legionslager errichtet, das nach seinem Ausgräber »Koenenlager« genannt wird und auf Grund seines vollständig anmutenden Ruinenplans einer der Klassiker des Faches geworden ist. Es wurde wohl noch von der Legio XX Valeria Victrix errichtet, und im Verlauf des großen Truppenrevirements zu Anfang des claudischen Britannienfeldzugs 43 n. Chr. bezog die Legio XVI hier Quartier. Diese wiederum wurde nach dem Bürgerkrieg 69/70 n. Chr. durch die Legio VI Victrix ersetzt, die bis zum Ende des Lagers (Terminus post quem 103) in Neuss stationiert war. Nach einem gewissen Hiatus wurde ungefähr in der Mitte des zweiten Jahrhunderts im Bereich der ehemaligen Mittelgebäude ein Auxiliarlager eingerichtet, das vermutlich über das Jahr 260 hinaus bestand. Auf Grund seiner Forschungsgeschichte ist Novaesium nicht einfach zu verstehen, denn trotz einiger Publikationen der innerhalb der Limesforschungen groß angelegten Novaesium-Reihe ist der Militärstandort Neuss für uns bis heute nicht wirklich greifbar. Die bisherige Strategie, die Neusser Großgrabungen getrennt nach Sachgruppen auszuwerten, hat sich letztlich als verfehlt erwiesen. Darüber hinaus sind die im Lauf der Grabungen mehrfach wechselnden Lagerbezeichnungen und auch Datierungen für den Außenstehenden kaum noch nachzuvollziehen, so dass der Autor gut daran tut, Topografie und Chronologie von Novaesium in einleitenden Kapiteln recht kurz abzuhandeln und nur tabellenartig auf die Ergebnisse der laufenden Neubearbeitung der Befunde durch Michael Gechter zu rekurrieren (mit Konkordanz alter und neuer Lagerbezeichnungen auf dem Arbeitsstand von 2004). Der Verfasser hat große Mühen unternommen, die in zahlreichen Sammlungen und Museen weit verstreuten Funde aus Neuss zusammenzuführen und aufzunehmen. Den Hauptteil des Katalogs bilden die Altfunde der Sammlung Heinrich Sels vor 1907, die überwiegend aus den Sels’schen Ringofenziegeleien im Bereich der frühen Lagerstrukturen A-I aufgesammelt wurden, sowie die heute im Landesmuseum Bonn aufbewahrten Funde aus der Grabung Koenen im Areal des Lagers K und die Graffiti aus den sämtliche Areale von Novaesium umfassenden Schwerpunktgrabungen zwischen 1955 und 1983. Da keine komplette Durchsicht der tonnenweise angefallenen Scherbenmassen möglich war, hat Kütter mittels einfacher Zufallsstichprobe geprüft, ob die aus Inventarlisten und eigener Suche erfasste Stückzahl repräsentativ für den Gesamtbestand ist, ein eigentlich recht simples Verfahren, das gerade bei der Aufnahme von Altmaterial zum Standard werden sollte, um die Aussagekraft des eigenen Material besser einschätzen zu können. Erfasst wurden so unter anderem 957 Ritzungen, fünf Pinselaufschriften (Dipinti; Kat. 604, 704, 754, 816 und 817), ein Stempel auf einer Amphorenwandung (Kat. 401) und eine vor dem Brand des Gefäßes mit Tonschlicker aufgetragene Inschrift (Kat. 253). Insgesamt sind es 964 Nummern, die in einem kommentierten Fundkatalog, dem Hauptteil der Publikation, vorgelegt werden (S. 102–231). Dessen Vorbemerkungen wiederholen zum Teil einiges aus dem sechsten (Zur Methode der Wiedergabe der Graffiti) und siebten Kapitel (Auswertung des Materials, besonders 7.1–7.3.2). Hier wäre eine Straffung der Informationen nützlich gewesen. Das Ziel der Arbeit war nach den Worten des Autors natürlich »eine Erfassung der Graffiti und nicht eine keramikkundliche Bestimmung der Schriftträger« (S. 33). Trotzdem bilden Schriftträger und Schrift eine unzertrennliche Einheit und müssen dementsprechend dokumentiert werden, zeichnerisch oder im Foto. Auf den Schwarzweißtafeln sind jedoch nur die Graffiti selbst wiedergegeben, ohne dass in allen Fällen die Position der Schrift auf dem jeweiligen Gefäß klar wird. Die Graffiti wurden mittels direkt auf die Keramikoberfläche gelegter flexibler Folien durchgezeichnet, dies aber, soweit an den wenigen Farbfotografien nachvollziehbar, keineswegs allzu genau. Im Vergleich zum Beispiel zu den Zeichnungen bei M. Scholz, Graffiti auf römischen Tongefäßen aus Nida-Heddernheim (Frankfurt a. M. 1999) wird deutlich, dass durch diese Unschärfen gerade der Duktus der Beschriftung nicht mehr eindeutig zu bewerten ist. Die Datierungen der Graffiti im Katalog orientieren sich bei der Terra Sigillata an Stempeldatierung, Gefäßform, Fundstelle und Fundumständen, wobei letztere vom Leser nicht überprüfbar sind, da sie nur mündlich durch den Bearbeiter Michael Gechter mitgeteilt wurden (S. 102 Anm. 359). Der Verfasser tut auf jeden Fall gut daran, das Material für die Auswertung gegenüber den genauen Datierungen im Katalog in nur drei grob unterteilte Perioden zu scheiden; mehr gibt das Material im Ganzen nicht her: Periode I: Augusteisch-tiberisch (Lager A-I) Periode II: Claudisch bis um 100/105 n. Chr. (Koenenlager K) Periode II: von 100/105 n. Chr. bis »3./4. Jh.« (u. a. Auxiliarlager L) Da eine Gesamtübersicht über die Anzahl der datierten Stücke fehlt, sei dies hier nachgeholt: Periode I: 273 (= 28,3 Prozent); Periode II: 413 (42,8 Prozent); Periode III: 116 (12,0 Prozent); Periode I und II: 50 (5,2 Prozent); Periode II und III: 18 (1,9 Prozent); Periode I–III: 15 (1,6 Prozent); unbestimmbar: 79 (8,2 Prozent). Es ist also keineswegs so, dass das augusteischtiberische Material überwiegt, wie man beim bisherigen Publikationsstand der Keramik aus Neuss denken könnte, sondern auf Grund der flächigen Freilegung liegt der Schwerpunkt auf dem Koenenlager und dessen Canabae. Im zweiten Jahrhundert dünnt die Reihe der beschrifteten Keramik rasch aus, die jüngsten Stücke sind eine Handvoll Scherben aus dem Ende des zweiten und dem Anfang des dritten Jahrhunderts (Kat. 396, 534, 750, 844, 958 und vielleicht 963). Wie auch an anderen Militärstandorten festgestellt wurde, sind uns heute Graffiti in Neuss vor allem auf Terra Sigillata überliefert (710 von 964 = 73,65 Prozent). Es folgen Schriftzeichen auf Amphoren mit 161 Stück (= 16,7 Prozent des Gesamtbestands) und 93 auf »sonstigem Geschirr« (= 9,5 Prozent; Daten nach Tabelle S. 32 umgerechnet). Entgegen der Aufteilung in Abbildung8 werden die Amphorenbeschriftungen unter dem Kapitel »Graffiti auf anderer Keramik« und nicht eigenständig abgehandelt, was sicher sinnvoll gewesen wäre, weil deren Kennzeichnungen einem ganz anderen Zweck unterlagen. Insgesamt passt sich der Graffitibestand von Neuss gut in den bekannten Forschungsstand ein. Unter den Stichworten »Zweck der Beschriftung« und »Gestaltung und Anbringung der Graffiti« kann Kütter daher nur wenig Neues beitragen. Die allermeisten Graffiti waren wohl Eigentumsmarkierungen. Formal lassen sich zwei Arten solcher Kennzeichnungen unterscheiden: (1) Einzelbuchstaben mit einem Überwiegen von X-Zeichen; (2) Namensgraffiti in verschiedenen Versionen, nämlich einfachen Nomina und Cognomina oder ausgeschriebenen beziehungsweise abgekürzten Dua oder Tria nomina. Auffällig ist, dass die zum Beispiel im Bestand des Kölner Flottenlagers an der Alteburg so häufig beobachteten Kerben in Standringen oder Rändern von Terra-Sigillata-Gefäßen (A. Düerkop / P. Eschbaumer, Die Terra Sigillata im römischen Flottenlager an der Alteburg in Köln. Das Fundmaterial der Ausgrabung 1998. Kölner Stud. zur Arch. d. röm. Provinzen 9 [Rahden 2007] 219–224) in Neuss eher selten vorzukommen scheinen (etwa Kat. 421). Die Auswertung nach Sprache und Schrift (Kap. 7.4.1 und 7.4.2) ist zwar immer noch obligatorisch bei Graffitovorlagen, aber auf Grund des spröden Schreibgrundes und der Zeichenhaftigkeit sind der paläographischen Auswertung von Graffiti von vornherein enge Grenzen gesetzt. In Neuss auffällig sind allein die recht hohe Anzahl und die Vielfalt von Ligaturen (S. 48). Es folgen einige Namenlisten – aufgeteilt in »einfache Namen«, »mehrteilige Namen« und »Tria nomina und Kombinationen aus 3 und mehr Buchstaben« –, die aber keine wirkliche Auswertung erfahren. Leider wird hier und auch an anderer Stelle nie konsequent zwischen Graffiti ante und post cocturam, also vor oder nach dem keramischen Brand unterschieden. Ähnlich sind in den Namenslisten beispielsweise auch Dipinti auf Amphoren berücksichtigt, und damit Namen von Personen, die ganz sicher nie in Novaesium weilten und deren Einbeziehung das Bild verfälscht. In dem überwiegend militärisch geprägten Umfeld von Novaesium überrascht es nicht, dass Frauennamen, mit nur drei sicheren Nennungen, kaum vertreten sind (Kat. 7, 662, 521 und vielleicht 610). Insgesamt recht selten ist auch der Nachweis eines Besitzerwechsels bei einem Terra-Sigillata-Teller (Kat. 21) sowie der Sonderfall eines Monogramms, das aus jeder Richtung gelesen immer wieder »val« ergibt (Kat. 89). Aus wirtschaftshistorischer Sicht geben die Graffiti aus Neuss nur sehr karge Informationen; unter anderem sind ein Salbenhändler (Seplasiarius, Kat. 316, Lesung allerdings nicht ganz sicher) und nur wenige Warenbezeichnungen vertreten (Sal – Salz, Kat. 470 und 488; Rumex – Sauerampfer, Kat. 940). Angesichts der oben dargelegten, recht unklaren Truppendislokation in Novaesium hatte man große Hoffnungen, mit Hilfe entsprechender Namensgraffiti auf die geographische Herkunft einzelner Soldaten und damit vielleicht auch auf die Herkunft ganzer Truppenteile schließen zu können (so etwa Christoph B. Rüger in: H. Chantraine u. a., Das römische Neuss [Stuttgart 1984] 19). Zu diesem Fragenkomplex kann der Verfasser tatsächlich einiges Neue beitragen, und dies gehört zu den wichtigen Ergebnissen der Arbeit. So findet sich eine Konzentration augusteisch-tiberischer Graffiti mit griechischen Namen im Bereich der Lager A-I nahe des Rheinlaufs. Der Autor vermutet hier wohl zu Recht einen Hafen der Militärflotte, deren Angehörige in jener Zeit zu einem Großteil aus dem griechischen Osten rekrutiert wurden. Zudem kann er in Neuss einen überproportionalen Anteil hispanischer Namen ausmachen, die man wohl mit den beiden jeweils aus Spanien nach Novaesium abkommandierten Legionen V Alaudae (im Jahr 9 n. Chr.) und VI Victrix (nach 69 n. Chr.) in Verbindung bringen kann, auch wenn Kütter in diesem Punkt mit gutem Grund sehr vorsichtig bleibt. Der für den Rezensenten interessanteste Punkt beschließt die Arbeit: Im Zusammenhang mit den zeichenartigen Symbolen, wie etwa Stern, Radmuster oder Hahnenfuß, kommt der Verfasser auf die zahlreichen X-Zeichen zu sprechen, die sich auf rund einem Fünftel der Objekte finden. X-Zeichen wurden auch schon von anderen Autoren erkannt und meist als Eigentumsmarken von Analphabeten gedeutet. Für diese Zeichen, insbesondere im Standring von Terra-Sigillata- Gefäßen, schlägt der Autor nun eine interessante neue Interpretation als Kennzeichnung von Gefäßen zweiter Wahl vor. In Analogie zu neuzeitlichen Beispielen (beispielsweise der Porzellanmanufaktur in Meißen) sollen diese Zeichen noch am Produktionsort zur Markierung minderer, aber noch verkaufbarer Qualitäten angebracht worden sein, etwa auch, um an Zollgrenzen nicht den vollen Steuersatz auf die geminderte Ware entrichten zu müssen. Er stützt seine These mit der bemerkenswerten Tatsache, dass alle in Neuss zum Beispiel anhand von unebenen Standringen, Lunkern oder Brennrissen als qualitätsgemindert erkannte Stücke tatsächlich ein X oder einen Stern aufweisen. Seine Theorie könnte auch das öfters beobachtete gleichzeitige Vorkommen von Namensgraffito und X-Zeichen auf ein und demselben Gefäß erklären. Natürlich fordert Kütters Interpretation eine grundsätzliche Diskussion geradezu heraus, ob man neuzeitliche Standards derart auf die Antike übertragen kann. Einige Töpferpapyri legen immerhin nahe, dass sich der Warenwert auch bei einfachem Tongeschirr unter anderem an äußerlichen Mängeln wie Schmauchspuren orientieren konnte (P. Oxy. 50.3595 vom 5. September 243 n. Chr.). Und auch bei kaiserzeitlichen Grabausstattungen gibt es immer wieder das Phänomen von mitgegebenen Fehlbränden oder – wie es oft in der Literatur heißt – »Gefäßen zweiter Wahl«. Die Mehrzahl der X-Zeichen als Markierungen von Gefäßen zweiter Wahl zu verstehen, ist eine originelle Idee, die in Zukunft ernsthaft zu prüfen sein wird. Der Autor gibt auch den weiteren Weg der Forschung mit einem ganzen Katalog von Fragen vor (S. 99). In erster Linie ist hier an eine Überprüfung von Beständen aus Terra-Sigillata-Töpfereien und Warenlagern beziehungsweise Händlerdepots zu denken. Die S. 94–97 gegebene Liste dementsprechender Geschirrdepots wäre zum Beispiel um die Funde vom Magdalensberg, von Cala Culip, Mainz-Weisenau, Bingen, Echzell, Ober-Florstadt oder Sankt Pölten ergänzbar. Die mögliche Interpretation als Ware zweiter Wahl zwingt auch dazu, bei künftigen Graffitovorlagen noch mehr als bisher auf den Schriftträger und dessen Qualität zu achten. Insgesamt ist Kütters Arbeit ein Gewinn, obwohl sie einige Unsicherheiten zeigt, wenn beispielsweise von den Canabae eines Aalenlagers (S. 98) die Rede ist oder das gehäufte Vorkommen von Vorratsgefäßen als nur zu natürlich angenommen wird, weil sie aus einer Fabrica des sogenannten Basartyps stammen (S. 29). Mit den Graffiti aus Neuss wird aber auch einmal mehr deutlich, dass den Möglichkeiten zur Interpretation von Graffiti sehr enge Grenzen gesetzt sind, und dass frühere Hoffnungen, anhand der Graffiti entscheidend zur Kenntnis der geographischen und sozialen Herkunft der an einem Militärstandort versammelten Personen beitragen zu können, wohl doch zu optimistisch waren. | |
Bron: Bonner Jahrbücher, Band 208, 2008 (geschrieben von Alexander Heising) | |
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Jochen Kütter Graffiti auf römischer Gefäßkeramik aus Neuss ISBN: 978-3-8322-7237-1 Prijs: 34,90 € / 69,80 SFR |
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Jochen Kutter, Graffiti auf römischer Gefäßkeramik aus Neuss. Shaker Verlag, Aachen 2008. 253 Seiten, 25 Abbildungen, 67 Schwarzweißtafeln, 3 Farbtafeln, I Kartenanhang. Seit wenigen Jahren beschäftigt sich die internationale Forschergemeinde wieder vermehrt mit Fragen zur Schriftlichkeit in den römischen Provinzen. Dies dürfte nicht zuletzt dem Umstand geschuldet sein, dass man seit den spektakulären Schreibtäfelchen von Vindolanda und der Aufarbeitung der Kleininschriften aus dem Schutthügel von Vindonissa die Gewissheit hat, dass die Schriftkultur der westlichen Provinzen ähnlich komplex war wie die durch die Papyri schon lange belegte Litera-lität im Osten des Reiches. Neben Schreibmaterial und Schreibgerät (M. Feugère / P.-Y. Lambert [Hrsg.], L´écriture dans la société gallo-romaine. Elements e réflexion collective. Gallia 61, 2004, 1-192) stehen in den gallisch-germanischen Provinzen auf Grund der hiesigen Erhaltungsbedingungen vor allem die zahlreichen Graffiti auf Gefäßkeramik im Fokus des Interesses. Die anzuzeigende Arbeit von Jochen Kutter über die Graffiti aus Neuss steht in der Tradition einer ganzen Reihe analoger Grafittopublikationen in einer vergleichsweise gut erschlossenen Forschungslandschaft. Im Gegensatz zu anderen römischen Provinzen, deren Graffitomaterial erst in allerjüngster Zeit punktuell vorgelegt wurde oder gerade bearbeitet wird — zum. Beispiel die südliche Germania superior mit Äugst und Avenches -, sind die Graffiti der Germania inferior bereits vor einiger Zeit in einer größeren Fläche erfasst worden, zumindest soweit sie 1975 im Landesmuseum Bonn greifbar waren (B. Galsterer-Kröll, Graffiti auf römischer Keramik im Rheinischen Landesmuseum Bonn. Epigr. Studien 10 [Köln und Bonn 19-75]). Dazu kommen separate Veröf¬fentlichungen der Graffitibestände einzelner Orte wie Asberg (T. Bechert, Steindenkmäler und Gefäßinschriften. Funde aus Asciburgium 4 [Duisburg 1976]) oder des im nördlichen Teil der Großprovinz Germania gelegenen Militärstützpunktes Haltern (B. Galsterer, Die Graffiti auf der römischen Gefäßkeramik aus Haltern. Boden¬altertümer Westfalens 20 [Münster 1983]). Gleichzeitig mit dem anzuzeigenden Titel entstanden ist eine Arbeit über Graffiti aus Xanten (St. Weiß-König, Graffiti auf römischer Gefäßkeramik aus dem Bereich der Colonia UlpiaTraiana/Xanten [in Vorb.]). Mit der Arbeit von Kutter liegen nun die Graffiti auf Gefäßkeramik aus Novaesium (Neuss) vor, deren Bearbeitung Brigitte Galsterer-Kröll bereits 1975 an¬geregt hatte, auf Grund anderer Verpflichtungen aber nicht weiterverfolgen konnte. Es handelt sich um eine 2007 am Institut für Kunstgeschichte und Archäologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn abgeschlossene Dissertation, die schon ein Jahr später in einem der heute günstigen Dissertationsdrucke erscheinen konnte. Der Autor hatte sich bereits in seiner Magisterarbeit mit den Graffiti aus dem Clemens-Sels-Museum in Neuss beschäftigt und gemeinsam mit Carl Pause einen populärwissenschaftlichen Ausstellungska¬talog vorgelegt (Geritzt und gestempelt. Schriftzeugnisse aus dem römischen Neuss [Neuss 2006]). Die Arbeit wird schon auf Grund des Fundplatzes auf großes Interesse stoßen, ist doch Neuss für die provinzi-alrömische Archäologie in Deutschland ein besonderer Ort. Novaesium wurde um 16 v. Chr. gegründet und gehört damit zu den frühesten Militärstandorten am Rhein. Es blieb das gesamte erste Jahrhundert über durch Legionen beziehungsweise Legionsvexillationen besetzt. Auch wenn wir heute wissen, dass die unter Agrippa ausgebaute Südnordstraße quer durch Gallien bis zum Niederrhein nicht in Neuss endete, sondern weiter den Rhein entlang bis nach Nimwegen führte, ändert dies nichts an der Rolle von Neuss als einem bedeutenden Aufmarschplatz für das römische Heer gerade in der offensiven augusteisch-frühtiberischen Phase. Offenbar war der Stützpunkt immer nur für kurze Zeit belegt, und so folgten östlich des Meertals zwischen Rhein und Erftmündung bis Anfang der vierziger Jahre des ersten Jahrhunderts mindestens zehn Holz-Erde-Lager mit diversen Bauphasen aufeinander. Als Besatzungen lassen sich Vexillationen in wechselnder Stärke und Zusammensetzung annehmen. Schlaglichtartig wird die Besatzung während der Meutereien nach dem Tod des Augustus deutlich: Laut Tacitus (Ann. 1, 31) lagen damals die Hauptteile der Legionen I, V Alaudae, XX Valeria Victrix und XXI Rapax im Gebiet der Ubier am Rhein, und zwar in einem namenlosen Sommerlager, das üblicherweise mit Novaesium gleichgesetzt wird. In der Frühzeit war Neuss also Sammelplatz, Durchgangslager und Nachschubbasis in einem, besaß eine hohe Truppenfluktuation und war vom Charakter her sehr ähnlich den immer wieder aufgesuchten Lagerplätzen Dorsten-Holsterhausen oder Trebur-Geinsheim, wenn auch ziemlich sicher mehr oder weniger durchgehend belegt. In den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren änderte sich der Charakter des Stützpunktes zu einem fest verorteten Truppenstandort (castra hiberna) an der Flussgrenze. Östlich des bisherigen Lagerareals wurde ein neues Legionslager errichtet, das nach seinem Ausgrä¬ber »Koenenlager« genannt wird und auf Grund seines vollständig anmutenden Ruinenplans einer der Klassiker des Faches geworden ist. Es wurde wohl noch von der Legio XX Valeria Victrix errichtet, und im Verlauf des großen Truppenrevirements zu Anfang des claudischen Britannienfeldzugs 43 n. Chr. bezog die Legio XVI hier Quartier. Diese wiederum wurde nach dem Bürgerkrieg 69/70 n.Chr. durch die Legio VI Victrix ersetzt, die bis zum Ende des Lagers (Terminus post quem 103) in Neuss stationiert war. Nach einem gewissen Hiatus wurde ungefähr in der Mitte des zweiten Jahrhunderts im Bereich der ehemaligen Mittelgebäude ein Auxiliar-lager eingerichtet, das vermutlich über das Jahr 260 hinaus bestand. Auf Grund seiner Forschungsgeschichte ist Novaesium nicht einfach zu verstehen, denn trotz einiger Publikationen der innerhalb der Limesforschungen groß angelegten Novaesium-Reihe ist der Militärstandort. Neuss für uns bis heute nicht wirklich greifbar. Die bisherige Strategie, die Neusser Großgrabungen getrennt nach Sachgruppen auszuwerten, hat sich letztlich als verfehlt erwiesen. Darüber hinaus sind die im Lauf der Grabungen mehrfach wechselnden Lagerbezeichnungen und auch Datierungen für den Außenstehenden kaum noch nachzuvollziehen, so dass der Autor gut daran tut, Topografie und Chronologie von Novaesium in einleitenden Kapiteln recht kurz abzuhandeln und nur tabellenartig auf die Ergebnisse der laufenden Neubearbeitung der Befunde durch Michael Gechter zu rekurrieren (mit Konkordanz alter und neuer Lagerbezeichnungen auf dem Arbeitsstand von 2OO4). Der Verfasser hat große Mühen unternommen, die in zahlreichen Sammlungen und Museen weit verstreuten Funde aus Neuss zusammenzufuhren und aufzunehmen. Den Hauptteil des Katalogs bilden die Altfunde der Sammlung Heinrich Sels vor 1907, die überwiegend aus den Sels´schen Ringofenziegeleien im Bereich der frühen Lagerstrukturen A-I aufgesammelt wurden, sowie die heute im Landesmuseum Bonn aufbewahrten Funde aus der Grabung Koenen im Areal des Lagers K und die Graffiti aus den sämtliche Areale von Novaesium umfassenden Schwerpunktgrabungen zwischen 1955 und 1983. Da keine komplette Durchsicht der tonnenweise angefallenen Scherbenmassen möglich war, hat Kutter mittels einfacher Zufallsstichprobe geprüft, ob die aus Inventarlisten und eigener Suche erfasste Stückzahl repräsentativ für den Gesamtbestand ist, ein eigentlich recht simples Verfahren, das gerade bei der Aufnahme von Altmaterial zum Standard werden sollte, um die Aussagekraft des eigenen Material besser einschätzen zu können. Erfasst wurden so unter anderem 957 Ritzungen, fünf Pinselaufschriften (Dipinti; Kat. 604, 704, 754, 816 und 817), ein Stempel auf einer Amphorenwandung (Kat. 401) und eine vor dem Brand des Gefäßes mit Tonschlicker aufgetragene Inschrift (Kat. 253). Insgesamt sind es 964 Nummern, die in einem kommentierten Fundkatalog, dem Hauptteil der Publikation, vorgelegt werden (S. 102-231). Dessen Vorbemerkungen wiederholen zum Teil einiges aus dem sechsten (Zur Methode der Wiedergabe der Graffiti) und siebten Ka¬pitel (Auswertung des Materials, besonders 7.1-7.3.2). Hier wäre eine Straffung der Informationen nützlich gewesen. Das Ziel der Arbeit war nach den Worten des Autors natürlich »eine Erfassung der Graffiti und nicht eine keramikkundliche Bestimmung der Schriftträger« (S.33). Trotzdem bilden Schriftträger und Schrift eine unzertrennliche Einheit und müssen dementsprechend dokumentiert werden, zeichnerisch oder im Foto. Auf den Schwarzweißtafeln sind jedoch nur die Graffiti selbst wiedergegeben, ohne dass in allen Fällen die Position der Schrift auf dem jeweiligen Gefäß klar wird. Die Graffiti wurden mittels direkt auf die Keramikoberflä¬che gelegter flexibler Folien durchgezeichnet, dies aber, soweit an den wenigen Farbfotografien nachvollziehbar, keineswegs allzu genau. Im Vergleich zum Beispiel zu den Zeichnungen bei M. Scholz, Graffiti auf römischen Tongefäßen aus Nida-Heddernheim (Frankfurt a. M. 1999) wird deutlich, dass durch diese Unscharfen gerade der Duktus der Beschriftung nicht mehr eindeutig zu bewerten ist. Die Datierungen der Graffiti im Katalog orientieren sich bei der Terra Sigillata an Stempeldatierung, Gefäßform, Fundstelle und Fundumständen, wobei letztere vom Leser nicht überprüfbar sind, da sie nur mündlich durch den Bearbeiter Michael Gechter mitgeteilt wurden (S. 102 Anm. 359). Der Verfasser tut auf jeden Fall gut daran, das Material für die Auswertung gegenüber den genauen Datierungen im Katalog in nur drei grob unterteilte Perioden zu scheiden; mehr gibt das Material im Ganzen nicht her:
Periode I: 273 (= 28,3 Prozent); Periode II: 413 (42,8 Prozent); Periode III: 116 (12,0 Prozent); Periode I und II: 50 (5,2 Prozent); Periode II und III: 18 (1,9 Prozent); Periode I-III: 15 (1,6 Prozent); unbestimmbar: 79 (8,2 Prozent). Es ist also keineswegs so, dass das augusteisch-tiberische Material überwiegt, wie man beim bisherigen Publikationsstand der Keramik aus Neuss denken könnte, sondern auf Grund der flächigen Freilegung liegt der Schwerpunkt auf dem Koenenlager und dessen Canabae. Im zweiten Jahrhundert dünnt die Reihe der beschrifteten Keramik rasch aus, die jüngsten Stücke sind eine Handvoll Scherben aus dem Ende des zweiten und dem Anfang des dritten Jahrhunderts (Kat. 396,534,750,844, 958 und vielleicht 963). Wie auch an anderen Militärstandorten festgestellt wurde, sind uns heute Graffiti in Neuss vor allem auf Terra Sigillata überliefert (710 von 964 = 73,65 Prozent). Es folgen Schriftzeichen auf Amphoren mit 161 Stück (= 16,7 Prozent des Gesamtbestands) und 93 auf »sonstigem Geschirr« (= 9,5 Prozent; Daten nach Tabelle S. 32 umgerechnet). Entgegen der Aufteilung in Abbildung 8 werden die Amphorenbeschriftungen unter dem Kapitel »Graffiti auf anderer Keramik« und nicht eigenständig abgehandelt, was sicher sinnvoll gewesen wäre, weil deren Kennzeichnungen einem ganz anderen Zweck unterlagen. Insgesamt passt sich der Graffitibestand von Neuss gut in den bekannten Forschungsstand ein. Unter den Stichworten »Zweck der Beschriftung« und »Gestaltung und Anbringung der Graffiti« kann Kütter daher nur wenig Neues beitragen. Die allermeisten Graffiti waren wohl Eigentumsmarkierungen. Formal lassen sich zwei Arten solcher Kennzeichnungen unterscheiden:
Auffallig ist, dass die zum Beispiel im Bestand des Kölner Flottenlagers an der Alteburg so häufig beobachteten Kerben in Standringen oder Rändern von Terra-Si-gillata-Gefäßen (A. Düerkop / P. Eschbaumer, Die Terra Sigillata im römischen Flottenlager an der Alteburg in Köln. Das Fundmaterial der Ausgrabung 1998. Kölner Stud. zur Arch. d. röm. Provinzen 9 [Rahden 2007] 219—224) in Neuss eher selten vorzukommen scheinen (etwa Kat. 421). Die Auswertung nach Sprache und Schrift (Kap. 7.4.1 und 7.4.2) ist zwar immer noch obligatorisch bei Graffitovorlagen, aber auf Grund des spröden Schreibgrundes und der Zeichenhaftigkeit sind der paläographischen Auswertung von Graffiti von vornherein enge Grenzen gesetzt. In Neuss auffällig sind allein die recht hohe Anzahl und die Vielfalt von Ligaturen (S. 48). Es folgen einige Namenlisten — aufgeteilt in »einfache Namen«, »mehrteilige Namen« und »Tria nomina und Kombinationen aus 3 und mehr Buchstaben« —, die aber keine wirkliche Auswertung erfahren. Leider wird hier und auch an anderer Stelle nie konsequent zwischen Graffiti ante und post cocturam, also vor oder nach dem keramischen Brand unterschieden. Ähnlich sind in den Namenslisten beispielsweise auch Dipinti auf Amphoren berücksichtigt, und damit Narnen von Personen, die ganz sicher nie in Novaesium weilten und deren Einbeziehung das Bild verfälscht. In dem überwiegend militärisch geprägten Umfeld von Novaesium überrascht es nicht, dass Frauennamen, mit nur drei sicheren Nennungen, kaum vertreten sind (Kat. 7, 662, 521 und vielleicht 610). Insgesamt recht selten ist auch der Nachweis eines Besitzerwechsels bei einem Terra-Sigillata-Teller (Kat. 21) sowie der Sonder¬fall eines Monogramms, das aus jeder Richtung gelesen immer wieder »VAL« ergibt (Kat. 89). Aus wirtschaftshistorischer Sicht geben die Graffiti aus Neuss nur sehr karge Informationen; unter anderem sind ein Salbenhändler (Seplasiarius, Kat. 316, Lesung allerdings nicht ganz sicher) und nur wenige Waren¬bezeichnungen vertreten (Sal - Salz, Kat. 470 und 488; Rumex — Sauerampfer, Kat. 940). Angesichts der oben dargelegten, recht unklaren Truppendislokation in Novaesium hatte man große Hoffnungen, mit Hilfe entsprechender Namensgraffiti auf die geographische Herkunft einzelner Soldaten und damit vielleicht auch auf die Herkunft ganzer Truppenteile schließen zu können (so etwa Christoph B. Rüger in: H.Chantraine u. a., Das römische Neuss [Stuttgart 1984] 19). Zu diesem Fragenkomplex kann der Verfasser tatsächlich einiges Neue beitragen, und dies gehört zu den wichtigen Ergebnissen der Arbeit. So findet sich eine Konzentration augusteisch-tiberischer Graffiti mit griechischen Namen im Bereich der Lager A-I nahe des Rheinlaufs. Der Autor vermutet hier wohl zu Recht einen Hafen der Militärflotte, deren Angehörige in jener Zeit zu einem Großteil aus dem griechischen Osten rekrutiert wurden. Zudem kann er in Neuss einen überproportionalen Anteil hispanischer Namen ausmachen, die man wohl mit den beiden jeweils aus Spanien nach Novaesium abkommandierten Legionen V Alaudae (im Jahr 9 n. Chr.) und VI Victrix (nach 69 n. Chr.) in Verbindung bringen kann, auch wenn Kutter in diesem Punkt mit gutem Grund sehr vorsichtig bleibt. Der für den Rezensenten interessanteste Punkt beschließt die Arbeit: Im Zusammenhang mit den zeichenartigen Symbolen, wie etwa Stern, Radmuster oder Hahnenfuß, kommt der Verfasser auf die zahlreichen X-Zeichen zu sprechen, die sich auf rund einem Fünftel der Objekte finden. X-Zeichen wurden auch schon von anderen Autoren erkannt und rneist als Eigentumsmarken von Analphabeten gedeutet. Für diese Zeichen, insbesondere im Standring von Terra-Sigillata-Gefäßen, schlägt der Autor nun eine interessante neue Interpretation als Kennzeichnung von Gefäßen zweiter Wahl vor. In Analogie zu neuzeitlichen Beispielen (bei¬spielsweise der Porzellanmanufaktur in Meißen) sollen diese Zeichen noch am Produktionsort zur Markierung minderer, aber noch verkauf barer Qualitäten angebracht worden sein, etwa auch, um an Zollgrenzen nicht den vollen Steuersatz auf die geminderte Ware entrichten zu müssen. Er stützt seine These mit der bemerkenswerten Tatsache, dass alle in Neuss zum Beispiel anhand von unebenen Standringen, Lunkern oder Brennrissen als qualitätsgemindert erkannte Stücke tatsächlich ein X oder einen Stern aufweisen. Seine Theorie könnte auch das öfters beobachtete gleichzeitige Vorkommen von Namensgraffito und X-Zeichen auf ein und demselben Gefäß erklären. Natürlich fordert Kutters Interpretation eine grundsätzliche Diskussion geradezu heraus, ob man neuzeitliche Standards derart auf die Antike übertragen kann. Einige Töpferpapyri legen immerhin nahe, dass sich der Warenwert auch bei einfachem Tongeschirr unter anderem an äußerlichen Mängeln wie Schmauchspuren orientieren konnte (P. Oxy. 50.3595 vom 5. September 243 n. Chr.). Und auch bei kaiserzeitlichen Grabausstattungen gibt es immer wieder das Phänomen von mitgegebenen Fehlbränden oder - wie es oft in der Literatur heißt — »Gefäßen zweiter Wahl«. Die Mehrzahl der X-Zeichen als Markierungen von Gefäßen zweiter Wahl zu verstehen, ist eine originelle Idee, die in Zukunft ernsthaft zu prüfen sein wird. Der Autor gibt auch den weiteren Weg der Forschung mit einem ganzen Katalog von Fragen vor (S. 99). In erster Linie ist hier an eine Überprüfung von Beständen aus Terra-Sigillata-Töpfereien und Warenlagern beziehungsweise Händlerdepots zu denken. Die S. 94-97 gegebene Liste dementsprechender Geschirrdepots wäre zum Beispiel um die Funde vom Magdalensberg, von Cala Culip, Mainz-Weisenau, Bingen, Echzell, Ober-Florstadt oder Sankt Polten ergänzbar. Die mögliche Interpretation als Ware zweiter Wahl zwingt auch dazu, bei künftigen Graffitovorlagen noch mehr als bisher auf den Schrift¬träger und dessen Qualität zu achten. Insgesamt ist Kutters Arbeit ein Gewinn, obwohl sie einige Unsicherheiten zeigt, wenn beispielsweise von den Canabae eines Aalenlagers (S. 98) die Rede ist oder das gehäufte Vorkommen von Vorratsgefäßen als nur zu natürlich angenommen wird, weil sie aus einer Fabrica des sogenannten Basartyps stammen (S.29). Mit den Graffiti aus Neuss wird aber auch einmal mehr deutlich, dass den Möglichkeiten zur Interpretation von Graffiti sehr enge Grenzen gesetzt sind, und dass frühere Hoff¬nungen, anhand der Graffiti entscheidend zur Kenntnis der geographischen und sozialen Herkunft der an einem Militärstandort versammelten Personen beitragen zu können, wohl doch zu optimistisch waren. Freiburg im Breisgau Alexander Heising |
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Bron: Bonner Jahrbuch 208 (Jahrgang 2008, gedruckt 2010) | |
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