Dieter B. Kapp (Übers. u. Hg.) Der Schmuck einer Frau Kürzestgeschichten aus Nordindien Volume 64 ISBN: 978-3-8322-4905-2 Prijs: 29,80 € / 59,60 SFR |
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Das vorliegende Buch ist sowohl für eine breite Leserschaft als auch für Indologen bzw. Südasienwissenschaftler bestimmt. Das Genre der Kürzestgeschichte ist in Indien seit den 1970ern populär. In derselben Periode hat sich unter dem kulturellen Einfluss Japans die kürzeste Gedichtsform Haiku in der Dichtung in Hindi und weiteren Sprachen Südasiens verbreitet (allerdings sind Haiku im Hindi schon in der ersten Hälfte des 20. Jh. erschienen). Die Kürzestgeschichte wird manchmal als „Haiku in Prosa" betrachtet, als eine „Parallele zur Dichtungsform". Die Ähnlichkeit zwischen diesen Genres liegt auf der Hand: In beiden findet die künstlerische Intention Ausdruck in einer äußerst kurzen Form. Die Hindi-Kürzestgeschichten beinhalten üblicherweise nicht mehr als 70 Zeilen: die meisten sind noch kürzer. Im Unterschied zum entlehnten Genre Haiku hat sich die Kürzestgeschichte in Südasien auf dem Boden Folklore entwickelt und ist durch ihre Verwendung in der Belletristik verfeinert worden. Das prosaische Kürzestgenre ist in der Weltliteratur gutbekannt. In Hindi wurden Kürzestgeschichten schon im 19. Jh. verfasst, sogar von einem so großen Schriftsteller wie Bhäratendu Harischtschandra (Bhäratendu Haris-candra) (1850-1885), der am Anfang der modernen Hindi-Literatur stand.
Die von Dieter Kapp herausgegebene reiche Sammlung von Kürzestgeschichten bietet einen Einblick in die Geschichte des Genres mit der für eine solch kurze Form erstaunlichen thematischen und stilistischen Vielfalt. Alle Kürzestgeschichten in diesem Buch sind vom Herausgeber zum ersten Mal aus dem Hindi übersetzt. Die Übersetzungen bleiben dem Original inhaltlich und stilistisch treu. Unter den in diesem Band vorgestellten 134 Autoren (zwei Kürzgeschichten sind anonym) sind berühmte Schriftsteller, für die die Kürzestgeschichte eher eine unterhaltsame Abwechslung von großen Genres ist, und solche, die eine Vorliebe für das Kurzgenre haben. Unterden früheren sind, neben Harischtschandra, der größteHindi-Schriftsteller des 20. Jahrhunderts Premtschand (Prem´cand) (1880-1936), Upendranäth Aschk (Upen-dranäth Ask) (1910-1996), zeitgenössische Autorinnenund Autoren wie Tschiträ Mudgal (Citrä Mudgal) (geb.1944), Rädschendra Yädav (Räjendra Yädav) (geb. 1929)und andere. Unter denjenigen, die als Autoren von Kurz- und Kürzestgeschichten bekannt sind, können z. B. Schri Tilak (Sri Tilak) (geb. 1932), Dschasblr Tschävlä (Jas´blrCäv´lä) (geb. 1953), Ghanschyäm Agraväl (Ghan´syämAgraväl) und andere genannt werden. Einige Autoren sind durch ca. 10 Kürzestgeschichten, viele durch nur eine vertreten. Die meisten Kürzestgeschichten sind sozialkritisch. In ihnen werden Armut, soziale Ungerechtigkeit, Spaltung der Gesellschaft aufgrund der Religion und des Kastenwesens, Verfall der Moral und ähnliche Themen behandelt, z. B. Ghanschyäm Agraväl: „Der Schmuck einer Frau" {Anrät kä gah´na), Rädschendramohan Trivedl "bandhu" (Rajendramohan Trivedi, Bandhu´) "Die Versetzung" (Sthänämtaran); Yugal: „Das Verbrechen"(Jurm^). Fast in allen Geschichten stehen ethische Fragen im Vordergrund. Dies zusammen mit der Kurzform und paradoxen Abschlüssen verleiht diesem Genre eine Ähnlichkeit mit Fabeln, die in den allegorischen Geschichten besonders deutlich wird, z. B. Madhukar Bhäradvädsch(Madhukar Bhäradväj): „Die demokratische Republik"(Lok´tamträtmak gan´räjya), im Pancatantra-Stil. Die Vielfältigkeit der Plots - von überarbeiteten mythologischen Sujets bis zu den jüngsten, von Massenmedien aufgegriffenen Begebenheiten — ist enorm. Sobasiert z. B. „Natschiketas" (Naciketas) von Abhimanyu Anat auf einem altindischen Mythos, während Tschiträ Mudgal sich in „Der Diener" {Sevak) auf das Massakerin der königlichen Familie Nepals im Jahre 2001 bezieht.Ich habe oben für Eigennamen dieselbe Transkriptionverwendet, die in diesem Buch für südasiatische Namen und unübersetzbare Vokabeln benutzt wird. Diese Transkription basiert auf der deutschen Orthographie und versucht insofern, für den Leser die Aussprache der einheimischen Wörter möglichst genau wiederzugeben. Heute, da immer mehr literarische Werke aus südasiatischen Sprachen übersetzt und die Kulturen Südasiens den Deutschen bekannter werden, ist es besonders wichtig, dass eine breite Leserschaft die Namen und Begriffein der richtigen und nicht in der durch die englische Orthographie verzerrten Form wahrnimmt. Es ist schon längst Zeit, in nichtwissenschaftlichen einschlägigen Werken auf den indologischen Snobismus zu verzichten und zu einer deutschen Transkription überzugehen, wie es in dem vorliegenden Band geschieht. Einige Beispiele, um das oben gesagte zu verdeutlichen: Der Name„Vijay" (englische Schreibweise) kann (wenn man vonder möglichen Aussprache lil für das v absieht) von einem Deutschen nur als /vijaj/, der Name „Citrä" (englische Schreibweise) als /tsitra:/ ausgesprochen werden,während die Schreibweise „Vidschay" bzw. „Tschiträ" -obwohl optisch ungewöhnlich und nicht sehr elegant -der echten Aussprache nahe kommt. Auch gegen die Verwendung des Buchstabens ä für den Diphtong ai kann es keine Einwände geben. Kapps System ist allerdings verbesserungsbedürftig, denn nicht alles darin ist konsequent; doch hier ist nicht der Ort, darüber zu diskutieren. Sehr hilfreich, besonders für die nicht fachkundige Leserschaft, sind Erklärungen zu den Quellen einiger Plotssowie Begriffen und historischen Fakten („Anmerkungen",S. 283-286) und „Worterklärungen" (S. 287-292). Für fachkundige Leser ist der Anhang „Autoren und Quellennachweise" nützlich (S. 293-312). Hier sind Kurzinformationen über 31 Autoren - soweit sich diese Informationen auffinden ließen - angeführt und die Quellender Hindi-Texte mit den Originaltiteln genannt. Einige biographische Angaben sollten präzisiert oder ergänzt werden: Raghuvir Sahäy starb im Jahre 1990 Mäkhanläl Tschaturvedi (Mäkhan´läl Caturved!) war nicht nur ein Gelehrter, sondern er ist in erster Linie als Dichter bekannt; nicht Premtschand war der Begründ der Vereinigung fortschrittlicher Schriftsteller Indiens, sondern eine Gruppe von jungen Autoren, unter denen Mulk Rädsch Änand (Mulk´räj Änand) und Saddschä Zahir (Saggäd Zahir/Sajjäd Zahir) die Hauptrolle spielten; die Angabe, das Premtschand „Sohn eines Kleinbauern" war (S. 304), kann irreführen, denn obwohl Familie in der Tat nur wenig Grundbesitz hatte, war sein Vater Beamter bei der Post und hat nie selbst auf dem Land gearbeitet.Die meisten verwandten Quellen, wie z. B. populäreZeitschriften wie Hams und Gaganäncal oder die Sammlung indischer Kurzgeschichten (Bhäratlya laghukathä kos), sind in deutschen Universitätsbibliotheken vorhanden, und die Texte könnten im Hindi-Sprachunterricht mit gutem Nutzen verwendet werden. Wegen ihrer kurzen Form und relativ einfacher Sprache sind Kürzestgeschichten für fortgeschrittene Studierende nicht schwer zu verstehen und nachzuerzählen. Sie sind eine perfekte Grundlage für die Ausarbeitung von Übungen zur Grammatik und Lexik der Hindi-Sprache. Die vorliegende Sammlung ermöglicht einen Vergleich der Originale mit den Übersetzungen, womit sich die Übersetzungsarbeit mit diesen Texten in Sprachlehrveranstaltungen erübrigt. Dieser Band bietet somit nicht nur interessante Lektüre, sondern auch nützliche Materialien für Indologen bzw. Südasienwissenschaftler und Literaturwissenschaftler. |
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Bron: Orientalistische Literaturzeitung 104 | |
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