Oskar von Hinüber Indiens Weg in die Moderne Geschichte und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert Volume 6 ISBN: 978-3-8322-3647-2 Prijs: 35,80 € / 71,60 SFR |
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Oskar von Hinüber (H.) bietet in seinem Buch einen Überblick über die neuere indische Geschichte bis ca. 1975. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Themen politischer Geschichte. In drei kürzeren Kapiteln thematisiert der Autor auch kulturelle Aspekte des 19. Jahrhunderts. Nach einer prägnanten Iandeskundlichen Enführung widmet er dem 18. Jahrhundert 25 Seiten (p. 21-45); auf das 19. Jahrhundert geht H. auf über 60 Seiten ein (p. 46-107). Der umfassendste Teil (p. 108-241) behandelt das 20. Jahrhundert. Diesem Text folgen eine englische Karikatur von Indern aus dem Jahre 1824 sowie das Foto eines Sadhus mit Handy und Zigarette aus dem Jahre 2003. Es schließen sich Reproduktionen zweier historischer Landkarten und einer aktuellen Landkarte Indiens an. Den Abschluss des Buches bilden Listen der Generalgouverneure, Vizekönige und Indienminister Britisch-Indiens und der Premierminister, Präsidenten etc. von Indien und Pakistan, ein Abkürzungsverzeichnis und ein Index. Eine Bibliographie gibt es nicht; dafür finden sich Literaturhinweise im Text. Der umgangssprachliche Schreibstil des Buches und die nützliche Unterteilung in einen Haupttext und in kleiner gedruckte Exkurse sind geeignet, es zu einem "Backpacker´s Companion" für Indienreisende zu machen. Hilfreich sind auch sprachliche Erläuterungen, z.B. dass "Rann" (von Kutch) "Sumpfwildnis" (p. 230) bedeutet. Anekdoten, wie z.B. eine bildhafte Kurzbeschreibung der jahrzehntelangen Entsendung der indischen Buchproduktionen in allen Schriftsprachen an US-amerikanische Universitäts bibliotheken als Gegenleistung für US-amerikanische Nahrungsmittelhilfe (p. 229), machen die Lektüre anregend. H. gelingt es auch, Spannung aufzubauen und Neugierde auf den weiteren Text zu wecken. Beispielsweise endet das Kapitel "Die Innenpolitik unter Nehru" (p. 223-227) mit einem Zitat des damaligen Premierministers Narasimha Rao: "Wie sollten wir fortfahren, wenn er einmal nicht mehr war?" Im nächsten Kapitel beschreibt der Autor, dass Nehru seine Nachfolge dem freien Spiel der Demokratie überlassen wollte, und präsentiert die Wirren von Nehrus Nachfolge (p. 228-232). Bei solch gekonnten Übergängen fällt es schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Diese unterhaltsame Schreibweise kontrastiert mit der äußeren Gestaltung des Buches. Auf dem Umschlagsrücken des in schlichten Blautönen gehaltenen Einbandes informiert uns die wissenschaftliche Biographie des Autors neben anderen akribischen Details, dass er im Jahre 1977 (also 28 Jahre vor Erscheinen des Buches!) einen Ruf an die Universität Oslo abgelehnt hat. Eine solche Akribie habe ich hingegen bei Quellenangaben, Literaturhinweisen und Belegen für Aussagen vermisst. Die historische Landkarte mit indischen Fürstentümern (p. 245) ist ohne Quellennachweis und ohne Angabe einer Jahreszahl abgedruckt. Der Band enthält im Anhang eine Auflistung der Premierminister, Präsidenten etc. von Indien und Pakistan (p. 252-254); es fehlt aber eine Nennung der Premierminister und Militärmachthaber von Bangladesh. Bei den Zahlreichen weiterführenden Literaturhinweisen fehlt die Erwähnung hervorragender Forschungsarbeiten bedeutender südasiatischer Historiker(innen), wie u.a. Sugata Bose, Samir Amin, Dipesh Chakrabarty, Partha Chatterjee, Ranajit Guha. Ayesha Jalal, Hasan Mushirul, Gyanendra Pandey, Gyan Prakash, Dhruv Raina, Sumit Sarkar oder Sanjay Subrahmanyam. Dies verwundert umso mehr, als deren Arbeiten inzwischen auch im deutschsprachigen Raum zu Standardwerken indischer Geschichtsschreibung geworden sind. Interessante und weitreichende Behaupt ungenbleiben oft unbegründet. Die auf p. 61 erwähnte wichtige Aussage, dass die ablehnende Haltung von indischen Muslimen gegenüber dem englischen Erziehungssystem ihnen "auf lange Zeit ganz erhebliche Nachteile brachte", hätte z.B. belegt werden sollen. Insgesamt hätte ein gründlicheres Lektorat dem Buch gut getan -dies nicht nur um die erwähnten Versäumnisse zu verhindern, sondern auch um verstreute Flüchtigkeitsfehler zu korrigieren und überflüssige Textstellen zu streichen, die keinen Beitrag zum Verständnis der Geschichte Indiens liefern, wie z.B. die Erwähnung auf p. 45, dass der Lehrstuhl für Indologie an der Universität Bonn im Jahre 2001 nicht mehr in Form einer ordentlichen Professor nachbesetzt wurde. Die Wahl des Buchtitels ("Indiens Weg in die Moderne") wirkt wie vom Verlag aufetikettiert; denn weder erklärt H., in welchem Zusammenhang der Titel zum Buch steht, noch definiert er, was "die Moderne" ist und was ein "Weg" im Rahmen einer historischen Betrachtung beinhaltet. Für inhaltlich problematisch halte ich den darin enthaltenen doppelten Singular. Wird hier der Wunsch ausgedrückt, eine Meistererzählung indischer Geschichte zu konstruieren, die die europäische Entwicklung zum Maßstab nimmt? H. ist allerdings weit davon entfernt, in diesem Band eine durchgängige These oder stringente Argumentationslinie zu präsentieren. Laut seinem Vorwort beinhaltet "Indiens Weg in die Moderne" eine - auf seinen Vorlesungen beruhende einführende Darstellung historischer Ereignisse in chronologischer Folge, für die die seit 1987 erscheinende New Cambridge History of lndia "den Hintergrund und die Grundlage bildet" (p. 11). Der Untertitel des Buches sowie Erwähnungen im Vorwort und auf der Umschlagrückseite verweisen auf eine besondere Berücksichtigung indischer Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Wenn man von einem traditionellen Kulturbeg triff im Sinne von Hochkultur wie Literatur, Theater, Malerei, Skulptur, Tanz, Musik oder Architektur ausgeht, so beschränken sich diesbezüglich Ausführungen in Bezug auf das 20. Jahrhundert allerdings auf flüchtige Erwähnungen von Rabindranath Tagore und ausführlichere bezüglich der Bautätigkeit europäischer Architekten. Aspekte der inzwischen auch erforschten indischen "Public Culture" werden überhaupt nicht erwähnt. Ebenfalls unthematisiert bleiben die Entwicklungen indischer Universitäten und, ab den 1950iger Jahren, auch der Indian Institutes of Technology (llTs), die lndiens "Weg in die Moderne" entscheidend mitgeprägt haben. H. geht auch über die eklatanten Unterschiede in den Lebensbedingungen der indischen Bevölkerung hinweg. Die Folge einer solchen Nichtbeachtung sozialer Unterschiede innerhalb der indischen Gesellschaft sind undifferenzierte Aussagen wie: "Durch einen Glücksfall kam eben im Jahre des schlechten Monsuns eine neue Weizensorte auf den Markt, die die ´grüne Revolution´ einleitete. Sie brachte zugleich den Bauern in den Weizenstaaten Panjab und Hariyana großen wirtschaftlichen Gewinn" (p. 229). Sicherlich gab es Gewinner der "grünen Revolution"; doch die inzwischen umfangreichen Forschungen zum Thema belegen, dass arme Bauern zumeist keine finanziellen Mittel zum Ankauf von Saatgut, Pestiziden und Landmaschinen hatten, sondern durch diese "Modernisierung" oftmals in derart prekäre Situationen kamen, dass sie ihr Land an reiche Bauern bzw. an Konzerne im Agrobusiness abgeben mussten. Auch die Situation von Fabrik- und Wanderarbeiter(inne)n bleibt in diesem Band im Dunkeln. Den Dalits, ein schließlich der Leistungen von Ambedkar, widmet der Autor gerade einmal eine halbe Sleite. Im Index findet sich ein Eintrag zum Thema "Frauen", der sich allerdings auf Sanskrit-Literatur von Frauen im 18. Jahrhundert bezieht. Ebenso wenig arbeitet H. die komplexen Auseinandersetzungen, Verflechtungen und auch Synergien zwischen den vielfältigen vor-kolonialen, den britischen und den diversen post-kolonialen (z.B. US-amerikanischen) Einflüssen, die Indiens Geschichte prägten und prägen, heraus. Charakteristisch für seine Vogelschauperspektive sind Aussagen wie "Als sich Ahmad Shah Dunani am Ziel sah, ereilte ihn dasselbe Schicksal wie Alexander den Großen in Indien im Jahre 326/5 v. Chr." (p. 28) bzw. "Die Unabhängigkeit kam nun mit Riesenschritten näher" (p. 181) oder "Seit der Unabhängigkeit Pakistans am 14. August 1947 trennt sich der Verlauf der Geschichte der beiden neuen Staaten, um sich in einer Reihe unglücklicher Konflikte wiederum zu begegnen" (p. 193). Ab und zu steigt der Autor dann doch in Niederungen von Details hinab. Diese sind zumeist amüsante Anekdoten aus den Lebenswelten indischer Privilegierter wie der Einbau einer Geschirrspülmaschine in den von Eckart Muthesius in den 1930iger Jahren erbauten Palast von Yashwant Rao (p. 128) oder das auf p. 50f. beschriebene Schicksal des Diamanten Koh-i-Nur. Doch auch dies sind Facetten der neueren Geschichte Indiens, selbst wenn sich die Mehrheit der indischen Bevölkerung in den vergangenen 250 Jahren in anderen Lebenswelten bewegte. Christiane Hartnack |
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Bron: Wiener Zeitschrift für die Kunden Südasiens. 54 / 2011-2012. S. 241-244 | |
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