Wolfgang Hien, Herbert Obenland
Schadstoffe und Public Health
Ein gesundheitswissenschaftlicher Blick auf Wohn- und Arbeitsumwelt
Das Geleitwort von Erik Petersen beantwortet genau jene Frage, die auch dem geneigten Leser beim Blick in den Sammelband sogleich in den Sinn kommen mag: Ist der Inhalt der Publikation, Aufsätze aus den Jahren 1995 bis 2016, mit Erscheinen nicht bereits längst überholt? Nein - denn die Kombination "Schadstoffe und Public Health" ist ein in Deutschland noch immer stark vernachlässigtes Wissensgebiet, eine Zusammenfassung von Lehrbeispielen und Befunden zur begründbaren Gesundheitsprävention entsprechend für Interessierte ebenso wie für Therapeuten unbedingt empfehlenswert.
Die Themen dieses Buches sind (im Vergleich mit der stagnierenden Präventionsforschung) sehr aktuell. Ein "gesundheitswissenschaftlicher Blick" soll geschärft werden, beispielsweise dahingehend, dass es für langfristig toxische Arbeitsstoffe weder eine Eignung noch Eignungsuntersuchungen gibt. Einleitend werden Berufsethik und -Verantwortung als Basis der Public Health-Praxis mit einem Exkurs in die naturwissenschaftliche und umweltbezogene Forschung verbunden. Praktische Beispiele für das Auseinanderklaffen zwischen "wissenschaftlicher Erkenntnis" und "praktischer Umsetzung" werden etwa im Abschnitt Arbeitsumwelt veranschaulicht. Die Ausführungen zur Krebsgefährdung enthalten dabei den bemerkenswerten Satz: "Für krebserzeugende Arbeitsstoffe gibt es keine "Eignung" und deshalb auch keine Eignungsuntersuchungen!" Auch die lehrreiche Geschichte zum Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz- Wie Tabakindustrie und Arbeitsmediziner über Jahrzehnte einen gesetzlichen Schutz verhinderten birgt viel brisantes Material und offenbart ein blamables politisches Versagen.
Da jedes Individuum eine Wohnumwelt hat, ist auch jeder Leser von den kontroversen Bewertungen zum "Hausstaub" betroffen, die anhand eines aufsehenerregenden Falls zunächst unentdeckter Pestizidbelastungen in Frankfurter Kasernen der ehemaligen US-Housings geschildert werden. Aus übertriebener Hygieneanwendung wurde seinerzeit aus einer "Kakerlakenbekämpfung" (während der Abwesenheiten der Bewohner ohne deren Wissen durchgeführt} ein Skandal mit einem weitreichenden politischen Nachspiel. Allein der Versuch, derartige Erfahrungen zu bewahren, rechtfertigt bereits diesen Sammelband. So hatten sich als Experten agierende Hygiene- und Toxikologieexperten in bedenklicher Weise über den "Unwillen Gesundheitsrisiken rational abzuschätzen" kritisch mit der Aufdeckungsgeschichte und Klagen der Betroffenen in einer arroganten Weise auseinandergesetzt, denen offenbar jedes Verständnis für individuelle Empfänglichkeit für neurotoxische Wirkungen im Wohnumfeld fehlte. Dabei gilt Public Health eben gerade diesen individuellen Unterschieden der Suszeptibilität (im Gegensatz zur Arbeitsmedizin mit dem Fokus auf selbstgewählte Tätigkeiten). Betroffene wurden wegen ihrer Beobachtungen und Symptome eher verunglimpft als unterstützt. Da sich jeweilige "Experten" gleichzeitig als bewährte Gutachter betätigen und von Sozialgerichten mit Risikobewertungen beauftragt werden, sind die hier vorgelegte Serie von mehreren Beiträgen und die Kritik der beiden Herausgeber an der unwilligen Kritik der "Spezialisten" für Effektmonitaring ganz besonders relevant.
Abschließend behandelt ein 15-seitiger Beitrag "Schadstoffe und soziale Ungleichheit - ein Teufelskreis" anhand weiterer Fallbeispiele aus der Wohn- und Arbeitswelt dieses umfangreiche Gebiet. Eine immer wieder erstaunliche Gläubigkeit an sog. Grenzwerte, die oft in kurzer Zeit als überholt gelten, macht die bisherige Umgangsweise mit toxikologischen Werten und die oft behauptete "Lehrmeinung" als Konsens suspekt. Die Umweltmedizin hat auf diesem Gebiet die moralische Verpflichtung, bestehende Missstände und Gefälligkeitsaussagen williger Experten anhand des Wissensstands kritisch zu prüfen und im Interesse der international geltenden wissenschaftlichen Standards zu korrigieren.
Die Zusammenstellung von Beiträgen hat sich aus langer berufsbedingter Erfahrung des Autorenduos ergeben, da hochwissenschaftliche Publikationen oft nicht ausreichend schnell und effektiv umgesetzt werden, sodass sich erst in der Retrospektive viele Versäumnisse ausmachen lassen. Die Asbesttragödie als Einstieg (gleich nach dem Kapitel Ethik) knüpft an die unethisch ignorierten Gefahren und das in Kauf genommene Massensterben an, obwohl die prinzipielle Evidenz für Kausalität längst feststand. Noch aktueller ist der Exkurs mit dem Ziel, Empfindlichkeit und Empfänglichkeit (am Beispiel der Styrolbelastung) zu beleuchten, weil hierzu auch die epidemiologische Forschung bisher bemerkenswert wenig beigetragen hat.
Krebserkrankungen von Frauen werden eigens thematisiert; sie werden nicht nur in der Forschung, sondern auch im (veralteten) Berufskrankheitenrecht vernachlässigt. Dabei sind Nachtschichtarbeit wie auch Tätigkeiten in der chemischen Industrie längst auch für Frauen als besonders unphysiologische und die hormonelle und autonome Regulation des weiblichen Körpers direkt belastende Berufsfaktoren anerkannt. Auch aus der Wohnumwelt können sich pathogene Situationen ergeben, da durch den täglichen Aufenthalt im Haushalt sowie im außerberuflichen Milieu durchaus unerkannte (oder sogar erkannte) Risikofaktoren einwirken können. Um diese wurde bereits jahrelang wegen zustehender Entschädigungen juristisch gestritten. Was sich als wesentlich herausstellte, waren verallgemeinerungsfähige präventive Aspekte in Situationen, die ubiquitär auftreten können. Aus solchen Beobachtungen und deren wiederholte Überprüfung auf konsistente Effekte, die in Public Health-Maßnahmen umsetzbar sind, resultiert die Berechtigung für aufwändige epidemiologische Studien unter Einbeziehung sozialer Ungleichheit mit Berücksichtigung individueller Risikofaktoren, auch um falschen Alarm oder unberechtigte Bedenken ausschließen zu können. Dabei ist der jeweilige finanzielle Sponsor bzw. die Unabhängigkeit der Forschung immer im Auge zu behalten. Hierzu rufen die beiden Autoren, die aus der praktischen Berufsweit chemischer Laborarbeit einschlägige Kenntnisse und Erfahrungen mitbringen, nachdrücklich auf.
Rainer Frentzei-Beyme
Quelle: Umwelt - Medizin - Gesellschaft Ausgabe 3-2017 Seite 59