Ingmar Landeck, Anita Kirmer, Christian Hildmann, Jörg Schlenstedt (Hrsg.)
Arten und Lebensräume der Bergbaufolgelandschaften
Chancen der Braunkohlesanierung für den Naturschutz im Osten Deutschlands
2019 war weltweit von der Diskussion um die Klimakatastrophe geprägt. In Deutschland stand dabei der Ausstieg aus der Braunkohle im Vordergrund. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema erfordert auch eine Betrachtung der Rekultivierung sowie der daraus entstandenen neuen Landschaften und ihrer Biotope. Genau mit diesem Thema beschäftigt sich "Arten und Lebensräume der Bergbaufolgelandschaften". Die Bundesregierung - so der zuständige Referatsleiter beim Umweltministerium auf der ersten Seite der Studie - sieht die Sanierung der Altlasten der ostdeutschen Braunkohlenindustrie in allen Bereichen als gelungen an. Diesem Urteil ist so nicht vorbehaltslos zuzustimmen. Allerdings trifft dies im besonderen Maße in Bezug auf Artenvielfalt, Naturschutz und die Schaffung von neuen Lebensräumen für Flora und Fauna zu. Bis 2017 - so die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft (LMBV) - wurden 20 Prozent (nach Ansicht der Autor_innen wenige Seiten später allerdings nur 15 Prozent) ihrer Gesamtflächen dieser Nutzung zugeführt. Das sind immerhin 13.350 Hektar. In dem Aufsatzsammelband "Arten und Lebensräume der Bergbaufolgelandschaften" geht es um die Besiedlung und Sukzession dieser Naturräume. Die von der LMBV in Auftrag gegebene Studie kann sich dabei auf eine breite statistische Quellenbasis der wichtigsten Behörden, Bergbaubetreiber, Forschungseinrichtungen aber auch Naturschutzgesellschaften und -projekte sowie Einzelpersonen stützen. Die Untersuchung fasst die Forschungsergebnisse ab Mitte der 1950er Jahre zusammen, wobei der Schwerpunkt auf der Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung liegt.
Die zentralen Fragestellungen beziehen sich auf den Wandel der Landschaft und die damit verbundenen Biotop-Typen, deren Dynamik und ihrem Beitrag zur Biodiversität. Referiert wird der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand, der durch die Expertise zahlreicher Forschender
aus den unterschiedlichen Regionen des Mitteldeutschen und Lausitzer Reviers beansprucht werden kann. Auch wenn die Sanierung gerade im Osten der Republik bereits weit fortgeschritten ist, kommt mit dem avisierten Kohleausstieg 2038 eine weitere Welle der Rekultivierung auf uns zu, für die das Buch eine hilfreiche Handreichung ist. Die Abhandlung richtet sich besonders an ein naturwissenschaftliches Fachpublikum, das sich mit Bergbaufolgelandschaft und natürlicher Sukzession beschäftigt, allerdings bietet es auch für die Menschen in den Braunkohlenbergbaurevieren vielfältige Informationen zur heimischen Flora und Fauna sowie zu deren Schutz. Die Bedeutung der Studie wird auch durch die Dimensionen der Bergbausanierung bestimmt: Immerhin handelt es sich um eines der "aufgrund ihrer Fläche und Komplexität [ ... ] größten Umweltprojekte Europas" (S. 15). Die Sanierung der ostdeutschen Braunkohlentagebaue war notwendig, da "sämtliche vorhandenen Strukturen und Funktionen sowie Beziehungsnetze untereinander, oberirdisch und im Boden, innerhalb des Abgrabungsbereiches zerstört" wurden (S. 17f).
Aber: "Die flächenhafte Entsiedlung der Landschaft trägt andererseits mit zur hohen Naturschutzwertigkeit der Bergbaufolgelandschaften bei" (S. 21). Hierin wird ein zentraler Punkt angesprochen: Die Vernichtung bisheriger Lebensräume bietet immer auch die Chance für neue Biotope. In dieser Hinsicht - so die Autor_innen - spielt die Bergbaufolgelandschaft Ostdeutschlands eine bedeutende Rolle für bedrohte Arten. Nicht nur für den Wolf, der bekanntesten und gleichzeitig umstrittensten seltenen Tierart in Deutschland, gilt dies. Verschiedenste Orchideen (S. 189-195) finden hier einen neuen Lebensraum, genauso wie Elbebiber (S. 225), Rotbauchunken (S. 244f) oder seltene Falter, wie die vom Aussterben bedrohte Hofdame (S. 491). Die Vielfältigkeit von Flora und Fauna wird anhand vieler unterschiedlicher Gruppen von Arten dargestellt. Trotz dieser umfassenden Arbeit bestehen, wie die Autor_innen freimütig bekennen, weiterhin Lücken im Monitoring
bestimmter Arten. Dies ist nicht als Mangel, sondern vielmehr als Ausblick auf die noch möglichen Entdeckungen in den Sukzessionsflächen
zu verstehen.
Die unterschiedlichen Kapitel geben einen Überblick über die Biotop- und Vegetationstypen der Bergbaufolgelandschaften (S. 83-140), die Pflanzen, Pilze und Flechten (S. 141-216) sowie die unterschiedlichen Tiere, von Säugetieren bis zur Schwebefliege (S. 217-502). Diese Schwerpunktsetzung spiegelt ein Ungleichgewicht in der Ausführlichkeit der Darstellung wider, die vor allem die Fauna priorisiert. So erfolgt leider keine Bewertung der bisherigen Rekultivierung, und die praktische Hinweise zur naturschutzgemäßen Gestaltung von Biotopen durch die Bergbausanierer sind sehr kurz gehalten, auch wenn sowohl auf die Umweltschädigungen des Tagebaus als auch auf Defizite bei der Sanierung hingewiesen wird (S. 20). Besonders auf den Eintrag von Neophyten (eingewanderte Pflanzen) wird kritisch eingegangen. So argumentieren die Autor_innen gegen die Ansiedlung von Lupine, Sanddorn und Ölweide, die besonders in der DDR als geeignete Erstbesiedler galten (S. 69 und 77). Hier wird nicht auf die Intentionen bei ihrer ursprünglichen Pflanzung eingegangen. Dies wäre beispielsweise für die Debatte um den Sanddorn interessant, da dieser, trotz der Kritik an seiner schnellen Ausbreitung, Vögeln geschützte Nistplätze bietet.
Der zunehmende Verlust von natürlichen Biotopflächen und ihr möglicher Erhalt oder ihre Neugestaltung in der Bergbaufolgelandschaft durchzieht den gesamten Band. Besonders die unbehandelten, stark versauerten tertiären Rohbodenkippen - häufig als "Mondlandschaften" bezeichnet - bieten seltene Lebensräume, die durch Sukzession aber auch durch Sanierung bedroht sind. Ameisenjungfern (S. 259ff) oder Ohrwürmer (S. 295ff) besiedeln besonders diese aus unserer Sicht unwirtlichen Orte. Selbst die durch Grundwasseranstieg versauerten Seen mit ihrem niedrigen pH-Werten werden beispielsweise von wasserlebenden Wanzen (S. 336) bewohnt. Dies unterstreicht die Forderung der Autor_innen nach einem diversifizierten Erhalt der Biotoptypen, der nur zugestimmt werden kann. Selbst praktische Tipps zum Erhalt werden gegeben: So erweisen sich die Waldbisons am Cospudener See südlich von Leipzig durch ihren Hunger auf Neophyten wie die Kanadische Goldrute und den Japan-Knöterich als Bewahrer seltener Lebensräume (S. 50). Ebenso übernehmen diese Aufgaben Ziegen (S. 65), Schafe (S. 60ff) und sogar Wildpferde (S. 6lf).
Die einzelnen Abschnitte sind nicht nur mit passenden Abbildungen versehen, sondern geben durch Karten, Grafiken und Tabellen Übersichten, die auch dem/der Fachfremden das Verständnis erleichtern. So zeigen Diagramme für fast alle Gruppen von (Tier und Pflanzen-)Arten deren Verbreitung im Mitteldeutschen und Lausitzer Revier sowie deren Anteil an der Gesamtflora und -fauna Deutschlands. Die jeweiligen Untersuchungsmethoden sind für jeden Abschnitt ausführlich und auch für den Laien nachvollziehbar beschrieben. Darüber hinaus weisen die Autor_innen auf noch bestehende Forschungslücken und Forschungsfragen hin, um eine zukünftige Bearbeitung zu erleichtern (S. 46, 136, 495). Das umfangreiche Literaturverzeichnis von annähernd 60 Seiten ermöglicht Interessierten die weitere Recherche. Auch werden Vorschläge zur konkreten Biotopgestaltung nach dem Best-Practice-Prinzip unterbreitet (S. 63ff, 65f, 67f). Diese kulminieren in der Forderung, den Natur- und Artenschutz in das Berggesetz zu integrieren, um im Abbauprozess entstandene Biotope zu erhalten (S. 236). Ein konkretes Beispiel betrifft die Böschungen, die nach aktuellem Bergrecht abgeflacht werden müssen, wodurch Steilwände und Abbruchkanten - ideale Brutplätze zum Beispiel für Uferschwalben – verschwinden (S. 100f).
Selbst Expert_innen werden mit interessanten Fakten überrascht. Zwei Beispiele: Der gesamte Braunkohlenbergbau in Deutschland hat seit Beginn der Industrialisierung ca. 100 Kubikkilometer Erde bewegt, was in etwa "einer quartären Eiszeit mit Inlandeisüberfahrung" entspricht (S. 27). Erstbesiedler der Bergbaufolgelandschaft sind, sowohl bei Pflanzen als auch bei Tieren, immer Fernbesiedler (Arten,
die weite Wege zu neuen Habitaten zurücklegen) (S. 29).
Trotz der insgesamt gelungenen Studie lassen sich sowohl formal als auch inhaltlich einige Kritikpunkte formulieren. So decken sich an wenigen Stellen statistische Angaben im Text nicht mit denen der Diagramme und Tabellen (S. 310f). Auch ist der Satz nicht immer einheitlich und etwas verwirrend, was in einer leeren Seite mit Überschrift gipfelt (S. 82). Aber auch inhaltlich gibt es ein paar weniger gelungene Abschnitte. Gelegentlich sind geografische Begrifflichkeiten uneindeutig oder fehlerhaft wiedergeben, wie beispielsweise "Halde Neukieritzsch". Eine solche existiert nicht. Es kann sich aufgrund der beschriebenen Entstehung, Fauna und des Alters nur um die heutige Hochhalde Lippendorf handeln. Auch wirken die Proportionen der einzelnen Teilbereiche unausgewogen. So nehmen Säugetiere als Gruppe gerade einmal zehn Seiten ein, während die Darstellungen zu Heuschrecken allein 14 Seiten umfassen. Auch ist das Buch auf den Naturschutz beschränkt und zeigt nicht die damit verbundenen gesellschaftlichen Dimensionen auf. Gerade das Reizthema Wolf braucht auch weiterhin wissenschaftliche Fakten, um eine sachliche Debatte zu fördern. Hier hätte das Potential des Buches noch weiter ausgeschöpft werden können.
Allerdings sind dies vielfach die Wünsche eines Fachwissenschaftlers, seine historischen Fragen beantwortet zu bekommen, die der Aufsatzsammelband nicht immer erfüllen kann und auch nicht muss. So bleibt die Frage der Entwicklung des Natur- und Artenschutzes auf vormaligen Bergbauflächen von den 1950er Jahren an komplett ausgeblendet. Ebenso wäre ein Vergleich mit dem Rheinischen Braunkohlenrevier und somit über die ehemalige innerdeutsche Grenze hinaus wünschenswert, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu benennen. Allerdings sind zumindest manchen Autor_innen die dortigen Forschungsergebnisse bekannt (S. 496). Hier ist ein weiterer wesentlicher Erkenntnisgewinn zu erwarten, weshalb Studien auf diesem Gebiet zielführend sein dürften.
Abschließend lässt sich festhalten, dass es sich um die umfassendste und aktuellste Gesamtdarstellung des Natur- und Artenschutzes sowie der Lebensräume in den Bergbaufolgelandschaften des ostdeutschen Braunkohlenbergbaus handelt. Als informatives Nachschlagewerk für alle, die sich mit diesen Themenkomplex beschäftigen oder sich privat dafür interessieren, ist es eine lohnenswerte Lektüre, die auch einmal einen etwas anderen und dabei sehr positiven Blick auf die ehemaligen "Mondlandschaften" der Lausitz und Mitteldeutschlands wirft.
Dr. des. Martin Baumert, Bochum
Quelle: Der Anschnitt, Zeitschrift für Montangeschichte, 3-4/2020, 72. Jahrgang