Marc Helmold
Best-in-Class Lieferantenmanagement in der Automobilindustrie
Handbuch der strategischen Lieferantenentwicklung
An den Kunden denken
Einkäufer, die auf das Lieferantenmanagement spezialisiert sind, also Lieferantenmanager, sollten ihr Netzwerk früh in den eigenen Prozess integrieren. Dies führe zu nachhaltigen Wettbewerbsvorteilen, Kostenreduktionen und Kundenzufriedenheit. Unser Autor Marc Helmold kann das mit einer empirischen Studie belegen.
Das strategische Lieferantenmanagement stößt seit einigen Jahren zunehmend auf das Interesse von Wissenschaft und Praxis und wird derzeit vor grundlegende He rausforderungen gestellt. Zum einen resul tieren aus der Wirtschaftskrise Insolven zen, Kooperationen und Übernahmen, zum anderen lassen sich Trends in der Auto mobilindustrie wie die zunehmende Glo balisierung oder das Outsourcing von Dienstleistungen und Produkten beobach ten, welche die Abhängigkeit vom Liefe rantennetzwerk signifikant erhöhen. Dies geht einher mit der wachsende Modularisierung und der Nutzung von Systemlieferanten, was zu einer verringerten Wert schöpfung und Fertigungstiefe des eigenen Unternehmens führt. Unternehmen konzentrieren sich auf die Aktivitäten, Produkte, Prozesse und Dienstleistungen, die einen langfristigen Wettbewerbsvorteil darstellen, den so genannten Kernkompetenzen, und lagern die Randkompetenzen an Zulieferer aus. Die ser Trend wirkt sich auf die gesamte Wertschöpfungskette von der Entwicklung bis zum After Markt aus.
Viele Unternehmen haben eine Wertschöpfungstiefe, die 20 bis 30 Prozent meist nicht mehr übersteigt; ebenso werden Entwick lungsarbeiten von Produkten, Werkzeugen und Maschinen vermehrt an Lieferanten im Rahmen einer frühen Einbindung durch „Early Supplier Involvement" oder „Simultaneous Engineering"-Konzepte an die Zulieferer abgegeben.
Gerade die mächtigen Automobilhersteller verlangen von den Zulieferern stetig neue Innovationen, Qualitätsverbesserungen und Materialkostenreduktionen, um ihre Fahrzeuge weiterhin attraktiv für Endverbraucher zu machen und an diese zu verkaufen. Als Konsequenz wird die Vernetzung mit strategischen Lieferanten immer wichtiger; damit hat der Stellenwert des Einkaufs und des strategischen Lieferantenmanagements eine zentrale Rolle eingenommen. Alte Leitbilder, dass der Einkauf ausschließlich für die Beschaffung von Gütern und Reduzierung von Materialkosten zuständig ist, gelten daher als überholt. Neue Technologien, Innovationen, gesetzliche und ökologische Determinanten erfordern Lieferanten, die in dem Wertschöpfungsprozess der Kunden fest integriert sind.
Das übergreifende Ziel des strategischen Einkaufs und des strategischen Lieferantenmanagements ist die Erfüllung der Kundenzufriedenheit; sie hat also die Aufgabe, die Lieferanten so zu steuern, dass die unternehmenseigenen Liefer-, Kosten- und Qualitätsziele optimal erfüllt werden. Auf diese Weise können sich Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil schaffen und sich von ihren Wettbewerbern abgrenzen. Eine Unternehmensberarung hat kürzlich mit einer Analyse festgestellt, dass nur 17 Prozent der befragten Unternehmen die Gesamtheit ihrer Lieferanten standardisiert in den eigenen Prozess integrieren. Darüber hinaus zeigt die Analyse, dass nur 19 Prozent der befragten Unternehmen stark präventiv in der gegenwärtigen Lieferantenentwicklung handeln, indem sie durch die sehr starke Berücksichtigung möglicher Folgekosten die gesamtunternehmerisch besten Lieferanten auswählen. Außerdem ermitteln nur 14 Prozent der für die Analyse befragten Unternehmen zukunftsbezogene Daten für die Erstellung von Trendprognosen.
Verlustkosten bis zu 40 Prozent
Beispiele wie die Rückrufaktionen von Toyota, Honda oder anderen Original Equipment Manufacturer (OEM) zeigen, dass eine fehlende und mangelhafte Lieferantenintegration zur Unzufriedenheit der Kunden führt und damit weitreichende und langfristige Verlust- und Folgekosten für die Unternehmen mit sich bringt. Eine von mir angefertigte Studie hat gezeigt, dass die Verlustkosten (engl. Lost cost) durch Anlaufprobleme, Qualitätsprobleme im Anlauf, in der eigenen Serie oder im Feld verheerende und sehr negative Auswirkungen auf die finanzielle Situation eines Projektes und auf die Profitabilität haben können.
Die empirischen Daten zeigen, dass abhängig vom Zeitpunkt der Störung die Verlustkosten bis zu 40 Prozent des gesamten Material kosteneinsatzes des Projektes betragen können. Können Anlaufstörungen oder so ge nannte Null-Kilometer-Ausfälle, d. h. defekte Produkte, die nicht zum Kunden gehen, vor dem Produktionsstart noch abgefangen werden, so sind die Verlustkosten mit vier bis sechs Prozent noch relativ gering. Werden Probleme erst beim Endverbraucher im Feld bereinigt, können die Verlustkosten sogar bis zu 40 Prozent ausmachen.
Das strategisches Lieferantenmanagement muss vorausschauend sein und eine Sensorik entlang der Wertschöpfungskette der Lieferanten (das Upstream Supply Chain Management) generieren. Dieses Warnsystem muss mehrstufig aufgebaut sein, um einen Filter für zukünftige Problemlieferanten und Störungen zu bilden. Darüber hinaus darf diese Sensorik nicht nur die traditionellen Funktionen des Einkaufs wie Leistungsstörungen in der Qualität und Lieferleistung umfassen, sondern sie muss auch im Rahmen einer ganzheitlichen Analyse alle Aspekte der Zulieferer wie Bonitätsuntersuchung, Projektmanagement, Sublieferantenmanagement und andere Risikobereiche darstellen.
In diesem Zusammenhang wird ersicht lich, dass effiziente Methoden und Werk zeuge einer schlanken Produktion, auch bekannt als Toyota-Produktionssystem, innerhalb der Automobilindustrie führend sind und von zahlreichen Automobilherstellern und Zulieferern angewandt werden. Diese Methoden sind als Just-in-time-Philosophie bekannt geworden und bestehen aus dem Fluss-, Takt-, Zieh- und Null-Fehler-Prinzip. Mein Buch „Best-in-class Lieferantenmanagement in der Automobilindustrie" könnte hier als Handbuch für Lieferantenmanager dienen. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es theoretische und praktische Ansätze verbindet. Anhand von ausgewählten Praxisbeispielen ist ersichtlich, dass nachhaltige Verbesserungen im Lieferantenmanagement möglich sind, wenn die Methoden und Werkzeuge des Lieferantenmanagements effizient eingesetzt werden. Die Beispiele zeigen ferner, dass erfolgreiche Unternehmen diese Konzepte so adaptiert haben, dass diese auf die eigenen Belange des Unternehmens aus gerichtet sind.
Ziel des Lieferantenmanagements ist es daher, Lieferanten in systematischer Form anhand geeigneter Informationssysteme über den gesamten Produktzyklus durch die Lieferantenbewertung zu evaluieren. Die Prozessschritte beinhalten die Lieferantenauswahl, den Entwicklungsprozess, die Serienbelieferung und die Nachserie. Ein wesentlicher Aspekt nimmt hier die Erfüllung der Kundenzufriedenheit als oberstes Gebot ein, denn Kundenzufriedenheit bedeutet wertschöpfende Tätigkeiten, für die der Kunde bereit ist, ein Entgelt zu zahlen.
Das proaktive 3-Stufenmodell, das im Zeitraum 2007 bis 2010 mit ausgewählten Zulieferern der unterschiedlichsten Materialgruppen durch geführt worden ist. Insbesondere die Zulieferer, die schon weit vor Serienstart in einer frühen Einbindung in die Konzeptphase von Entwicklung, Werkzeugen und Produktionsprozess mit einbezogen wurden, haben mit Materialkostenreduzierungen von mehr als fünf Prozent jährlich auf sich aufmerksam gemacht. Neben Materialkostenreduktion konnten ebenso Verbesserungen durch wertanalytische Workshops und Prozessoptimierungen erzielt werden. Das Drei-Stufenmodell sieht neben den routinemäßigen Verhandlungen für Zulieferer eine Anlauf kontrolle durch Lieferantenmanager in der ersten Stufe vor. Ganz speziell aus gebildete Anlaufmanager haben diese Lieferanten bereits von der Vorentwicklung an begleitet.
In der zweiten Stufe wurden neben Lieferanten-Workshops Sensorikmodelle angewandt, die eine 360 Grad Analyse beinhalten. Im Rahmen dieser Analyse wurden ne ben Qualitäts- oder Logistikpunkten auch Aspekte des Projektmanagements, Sublieferantenmanagements, Finanzstatus, Cash Flow berücksichtigt.
Die dritte Stufe geht in Richtung „strategische Allianz" und der frühen Einbindung in den eigenen Prozess der Unternehmung. Hierzu wurden geeignete Lieferanten an hand von Kriterien wie Technologie- oder Marktführerschaft ausgewählt. Trotz der Finanzkrise in 2008 und 2009 war es so möglich, ein Ergebnis im Einkauf zu erzie len, welches beachtlich war.
Der Einkauf als zentrale Koordinierungsstelle
Unter Berücksichtigung kultureller und länderspezifischer Aspekte von Unternehmen der Automobilindustrie, konnten zehn wesentliche und allgemeine Erfolgsfaktoren, die für ein Best-in-Class Lieferantenmanagement von Bedeutung sind, ermittelt werden (siehe Unten). Neben der Einbindung in die strategische Unternehmensplanung ist die Vernetzung vom strategischen Einkauf und Lieferantenmanagement notwendig, da der Einkauf alle Fragen des Lieferantenmanagements vereint. Der Einkauf dient hier als zentrale Koordinierungsstelle, die alle Themen bereiche des Lieferantennetzwerkes vereint. Effiziente Informationssysteme sorgen für eine stetige, vorausschauende und proaktive Messung der Lieferantenperformance und sorgen für Trendprognosen sowie nachhaltige Verbesserungen. Diese Kennzahlen können aber auch, insbeson dere bei fehlenden Verbesserungen im Bereich der Qualität oder bei Lieferstörungen, für eine Trennung vom Lieferanten herangezogen werden.
Der Fokus sollte jedoch auf Partnerschaften und Allianzen liegen. Lieferantenmanager müssen vernünftig qualifiziert sein, denn sie beraten interne Fachabteilungen und Lieferanten ganzheitlich im Sinne einer nachhaltigen Lieferantenförderung, um eine optimale Kombination von Qualitäts-, Liefer- und Kostenzielen erfolgreich umzusetzen.
Marc Helmold
Die zehn Erfolgsfaktoren
Einbindung in die strategische Unternehmensplanung
Ganzheitliche Funktion im strategischen Einkauf
Zentrale Organisationseinheit
Sensorik durch effiziente Nutzung von Informations- und Kommunikations technik
Messung der Lieferantenperformance durch Leistungsdatenerhebung
Angepasste Personalpolitik und Qualifikation der Lieferantenmanager
Aufbau von strategischen Allianzen in der Lieferkette und Fokus auf „Value Add" Prozesse
Nutzung messbarer Indikatoren zur Verbesserung (Kaizen) der Performance
Nachhaltigkeit bei der Entwicklung von Lieferanten
Detailorientierung in einer lernenden Organisation
Quelle: Beschaffung aktuell Ausgabe: August 2010